Stell dir vor, es gäbe im ganzen Land plötzlich gehäuft Fälle von alkoholisierten Autofahrer:innen, die Menschen auf dem Zebrastreifen anfahren. Als Reaktion darauf würde man Kurse anbieten, in denen die Teilnehmenden lernen, wie sie sicher die Strasse überqueren können, ohne angefahren zu werden. Und wie sie laut «STOPP!» schreien sollen, wenn sich ein Auto nähert.
Absurd, oder?
Ja, ich empfinde es als absurd, aber bei der sexualisierten Gewalt passiert genau das. Egal, wie sich die Frau als Opfer vor, während oder nach der Tat verhalten hat: Es ist falsch. Immer. Die Erwartung an die Frau ist klar: Hätte sie sich vorausschauend korrekt verhalten, wäre es nicht zur Gewalt gekommen. Und nun, da es zur Gewalt gekommen ist, soll sie bloss kein Aufhebens machen und mit einer Anzeige ein Männerleben zerstören. Lieber schicken wir sie in einen Selbstverteidigungskurs.
Falsche Verantwortlichkeiten
Männer könnten eben weiblichen Reizen nicht widerstehen, meint ein Drittel der Befragten. Jede fünfte Person ist der Ansicht, sexy angezogene Menschen seien mitverantwortlich, wenn sie belästigt werden, heisst es in einer neuen Studie von Sotomo.
Noch schlimmer: Laut der Studie findet jede dritte Person in deinem Umfeld, es sei gar nicht immer ganz klar, was einvernehmlicher Sex ist. Fast die Hälfte der Personen findet, es sei manchmal schwierig zu beurteilen, ob eine Vergewaltigung stattgefunden habe oder nicht.
Es ist wenig überraschend aber unfassbar frustrierend zu lesen, dass ein Drittel der Schweizer Bevölkerung Frauen für die an ihnen ausgeübte Belästigung und Gewalt mitverantwortlich macht. Wir reden von über zwei Millionen Menschen, die von einer Frau erwarten, dass sie ihre Kleidung, ihr Verhalten, ihren Alkoholkonsum und ihren Heimweg so wählt, dass sie keinen Mann zu Gewalt provoziert.
Wo bleibt das Mitgefühl?
Und die Männer? Ein Drittel der Bevölkerung traut einem Mann nicht zu, dass er zwischen Sex und Gewalt unterscheiden oder seine Triebe kontrollieren kann! Entgegen aller Fakten glaubt jeder dritte Mann, dass Vergewaltigungsvorwürfe oft erfunden werden. Apropos Fakt: Wusstest du, dass es viel wahrscheinlicher ist, dass ein Mann vergewaltigt wird, als dass ein Mann zu Unrecht einer Vergewaltigung bezichtigt wird?
Wir haben als Gesellschaft eine sehr klare Haltung gegenüber Opfern und gegenüber Täter:innen, wenn tragische Taten wie Attentate oder Raubüberfälle verübt werden. Das Mitgefühl gehört den Opfern, die Wut den Täter:innen. Bei sexualisierter Gewalt fehlt uns diese Klarheit – insbesondere, wenn sich Täter und Opfer kennen. Warum ist das so?
Subtile Vorwürfe
Ein grosser Teil der Bevölkerung geht bei der sexualisierten Gewalt von Stereotypen und unzutreffenden Annahmen aus. Das ist opferfeindlich und täterentlastend! Diese sogenannten Vergewaltigungsmythen führen dazu, dass das Ausmass und die Folgen sexualisierter Gewalt verharmlost und die Opfer abgewertet werden.
In den letzten Jahrzehnten wurden diese Vergewaltigungsmythen hinlänglich erforscht und x-fach widerlegt. Trotzdem existieren weiterhin kulturelle Botschaften und Normen, die sexualisierte Gewalt verharmlosen und fördern. Der Unterschied zu früher? Die Botschaften kommen seltener ideologisch und misogyn ("Sie hat es verdient und ist selber schuld.") daher, sondern viel mehr als logische Konsequenz ("Sie schliesst ja auch ihr Haus ab, genauso sollte sie sich im öffentlichen Raum schützen."), Sorge ("Ich hoffe, sie lernt aus ihren Fehlern und begibt sich nicht wieder in eine solche Situation") oder Ratschlag ("Du solltest nicht im Dunkeln joggen gehen!"). Diese subtileren Vorwürfe sind genauso opferabwertend und täterentlastend, werden aber oft nicht entlarvt.
Wir leben in einer Vergewaltigungskultur
Solange unklar ist, wo Sex aufhört und Gewalt anfängt, wird sexualisierte Gewalt als Ausrutscher gesehen. Sexualisierte Gewalt ist aber kein Ausrutscher! So bleibt sie unsichtbar – ebenso wie die (fast ausschliesslich männlichen) Täter. Und wo keine Täter sind, gibt es auch keine Tat, keine Opfer und kein Mitgefühl.
Ich möchte, dass wir die sexualisierte Gewalt sichtbar machen, in dem wir Opfer bedingungslos unterstützen, Täter zur Verantwortung ziehen und Vergewaltigungsmythen entlarven. Welches soziale Verhalten willst du von einem Mann im Jahre 2021 erwarten? Es ist klar: Sexualisierte Übergriffe sind nie gerechtfertigt. „Nein“ heisst immer nein und nur „ja“ heisst ja. Ich habe es so satt. So satt, dass Mädchen und Frauen immer noch das Gefühl vermittelt wird, sich verändern zu müssen, damit Männergewalt gestoppt werden kann.
Auch im Jahr 2021 leben wir in der Schweiz eine sogenannte Rape Culture – eine Vergewaltigungskultur. Sie vertritt gesellschaftliche Haltungen, die sexualisierte Gewalt verharmlosen, entschuldigen oder gar ignorieren. Und diese Haltungen werden teilweise immer noch an die nächste Generation weitergegeben. Das muss aufhören. Wir müssen Verantwortung übernehmen und nicht nur eine gewaltfreie Kultur erlernen, sondern die Vergewaltigungskultur entlernen.
Agota Lavoyer ist Opferberaterin, Kinderbuchautorin und Fachexpertin für sexualisierte Gewalt. Als Referentin und Netzaktivistin will sie aufklären, sensibilisieren und enttabuisieren.