Mein Name ist Sanija, wie anja mit S – oder Sonja mit a. Meine Mutter hat mir beigebracht, geduldig zu sein und mein Vater, wie man Computer hackt. Beides ist sehr nützlich. Anstatt Informatikerin wurde ich aber Juristin für Cybersicherheit und Politikerin: Die grosse Klappe sollte schliesslich eingesetzt werden. Ich schreibe diesen Text in der Badewanne, wie fast alle meine Texte. Nein, der Laptop ist noch nie reingefallen.

Zuhause in der Schweiz wurde kürzlich infrage gestellt, ob eine Schweizer:in mit bosnischen Wurzeln das Recht hat, Politik in der Schweiz zu machen. Ich starre auf den Boden und frage mich, wo meine Wurzeln sind. Ich beschliesse, meinen Grossvater zu besuchen und steige in Sarajevo ins Taxi. Der Fahrer macht sich über mein Bosnisch mit Schweizer Akzent lustig, und erzählt mir, wie er in den 90ern als Saisonnier in der Schweiz gearbeitet hat. Ich erzähle ihm, wie der Schlepper mich und meine Eltern 1995 auf der Flucht vor dem Krieg aus dem Lastwagen geschmissen hat – für die Weiterreise wollte er mehr Geld, meine Eltern hatten keines. Endstation Schweiz.

Glück im Unglück, meint der Fahrer. Aber schliesslich ein Privileg. Ich schaue auf sein Baseball-Cap mit dem aufgestickten Roger Federer Logo, gesponsert von der Credit Suisse. Ich frage mich, was das ist – Privileg. In meinem Kopf beginnt es zu rattern.

Steuern, Stimmrecht, Schweizerpass. Sie alle haben einen gemeinsamen Nenner: das Privileg. Dieser gemeinsame Nenner wird immer erst an Abstimmungen richtig sichtbar. So auch an den letzten vom 26. September 2021. Bei der Kapitalbesteuerungsinitiative stimmten einkommensschwache Haushalte deutlich mehr dafür als die einkommensstarken.

Deutlich mehr Männer haben die Kapitalbesteuerungsinitiative verworfen als Frauen. Das hängt auch damit zusammen, dass sie in Sachen Kapital mehr zu verlieren haben als Frauen.

Das überrascht nicht, zeigt aber, dass die Ablehnung der Umverteilung auch stark davon abhängt, ob man (Steuer-)Privilegien abgeben muss oder nicht. Dasselbe Muster findet sich unter den Geschlechtern: Deutlich mehr männliche Stimmende haben die Kapitalbesteuerungsinitiative verworfen als weibliche. Das hängt auch damit zusammen, dass Männer in Sachen Kapital ebenfalls mehr zu verlieren haben als Frauen: In der Schweiz verdienen Frauen immer noch durchschnittlich 19 Prozent weniger. Die unerklärte Lohndifferenz beträgt dabei 8 Prozent.

Was das Gesamtvermögen betrifft, beträgt die unerklärte Vermögensdifferenz in Deutschland 23'000 Euro zulasten der Frauen und in Österreich 58’417 Euro. Für die Schweiz gibt es noch keine Daten. Der Bundesrat hat eine Erhebung 2020 in Auftrag gegeben, erwartet wird der Bericht erst 2023. Sich für diese Ungleichheit nicht interessieren zu müssen – ein Privileg?


Erste Forderungen nach dem Frauenstimmrecht wurden 1868 laut, eingeführt wurde es schliesslich in der Volksabstimmung von 1971, als die männlichen Stimmbürger der anderen Hälfte des Schweizer Volkes das nationale Stimmrecht gewährt haben.

Hundert Jahre später. Die Hälfte der Bevölkerung als Bürgerinnen zweiter Klasse behandeln – ein Privileg?

Das Stimmrecht für Ausländer:innen wurde auf Gemeindeebene im Kanton Solothurn ebenfalls am 26. September 2021 wuchtig abgelehnt. Einen Viertel der Bevölkerung Steuern zahlen lassen, diesem aber verwehren, mitzubestimmen, wo sich der Parkplatz in ihrer Gemeinde befinden soll – ein Privileg?

Mit meiner Einbürgerung wurde ich gleichwertiges Mitglied dieser Gesellschaft. Dafür musste ich einen Leistungsnachweis in Integration erbringen, indem ich mich der « Schweizer Leitkultur» zu unterwerfen hatte. Als Schweizerin trage ich nun Mitverantwortung für dieses Land. Unser Land, ganz besonders die Politik, lebt vom Milizsystem: jede Schweizer:in hat eine Verantwortung, sich in dieser Demokratie politisch zu engagieren.

Wer Menschen mit ausländischer Herkunft wie mir politisches Engagement abstreitet, ist keine Schweizer:in.

Wer Menschen wie mir das politische Engagement aufgrund der ausländischen Herkunft abstreitet – die Grundidee dieses Landes verwirft – ist folglich keine Schweizer:in. Und für alle, die keinen anderen Zweck verfolgen, als sich an Privilegien festzukrallen, wird Gleichstellung immer Unterdrückung sein.

Es werden weitere Abstimmungen folgen, in denen es darum gehen wird, Menschen in diesem Land ein gleichgestelltes Leben zu ermöglichen. Mit der Initiative für die Individualbesteuerung haben wir die nächste Gelegenheit, unsere Privilegien zu überdenken.