Über Sanija Ameti – Co-Präsidentin der «Operation Libero», geschasstes Mitglied der GLP-Geschäftsleitung und bezeichnenderweise auch Feministin und Muslima – ging in den letzten Tagen ein regelrechter Platzregen an negativer Berichterstattung nieder. Der Grund: Sie schoss mit einem Luftgewehr auf ein Bildnis von Jesus und Maria und postete Bilder davon in den Sozialen Medien.
Vorneweg: Natürlich war das eine selten schlechte Idee. Da bin ich mit den meisten Journalist:innen einer Meinung. Dass es Jesus und Maria waren, auf deren Bild sie schoss, spielt für mich im Unterschied zu vielen anderen nur eine untergeordnete Rolle – ich verfüge über keinerlei religiöse Gefühle, die sich irgendwie verletzen liessen. Allerdings bin ich der Meinung, dass auf Bildnisse von Frauen und Kindern allgemein nicht geschossen werden sollte, und wenn, dann ganz sicher nicht unter den Augen der Öffentlichkeit und auf Social Media.
Warum Ameti – an guten Tagen ein Leuchtfeuer der Scharfsinnigkeit und Eloquenz in der sonst eher blassen Schweizer Polit-Landschaft – dies dennoch gemacht hat, entzieht sich meinen Kenntnissen. Dass sie allerdings «ganz genau wusste, was sie tat», wie die NZZ hämisch schreibt, wage ich zu bezweifeln. Dafür sind die Konsequenzen viel zu drastisch. Hier ein kurzer Abriss darüber:
- Ihre Partei, die Grünliberalen des Kantons Zürichs, lässt sie fallen wie eine heisse Kartoffel. Sie werfen Ameti per sofort und «in gegenseitigem Einvernehmen» aus der kantonalen Parteileitung, ein Partei-Ausschlussverfahren wurde eingeleitet.
- Sie verliert ihren Job bei der PR-Agentur «Farner Consulting».
- Die Junge SVP Schweiz reicht Strafanzeige wegen Verletzung der Glaubens- und Kultusfreiheit ein.
- Die Trolls in den Kommentarspalten schlagen vor, man solle doch «sie selber als Zielscheibe verwenden».
- Selbst Wladimir Putin und seine mediale Propagandamaschinerie interessieren sich für den Fall und kritisieren den Umgang der Schweizer Medien mit Sanija Ameti als «Woke-Zensur» – was auch immer das genau heissen mag.
- Ameti und ihre Familie werden bedroht und stehen unter Polizeischutz.
Kurz: Sanija Ametis Karriere hat sich über Nacht in Luft aufgelöst, mehr noch: Ihr ganzes Leben scheint aktuell im freien Fall begriffen. Dass sie das nicht verdient hat, steht für mich ausser Frage. Was ihr gerade widerfährt, wünsche ich nicht mal Menschen wie Yannick Buttet – Mitte-Politiker und verurteilter Sexualstraftäter.
Zur Erinnerung: Der ehemalige CVP-Nationalrat und Vizepräsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft wurde Mitte Jahr trotz mehrerer rechtskräftiger Verurteilungen wegen Nötigung und sexueller Belästigung einstimmig zum Präsidenten des Walliser Tourismusverbands gewählt. Er wurde damit indirekt zum Vorgesetzten einer Frau, die gegen ihn prozessiert (und gewonnen!) hatte. Die mediale Berichterstattung darüber – sowohl über die Anschuldigungen als auch über sein neues Amt – hielt sich in Grenzen, bis Forderungen nach seiner Absetzung laut wurden, insbesondere, aber nicht nur, von linksfeministischer Seite aus.
Sein Amt als Tourismuschef musste Buttet zwar niederlegen, über Drohungen gegen ihn und seine Familie ist (glücklicherweise!) jedoch nichts bekannt. Auch blieb die Tonalität der Berichterstattung über die Causa Buttet immer sachlich, während sie im Fall Ameti über weite Strecken von Häme und Hass geprägt ist. Und das, obwohl Ameti im Unterschied zu Buttet keine echten Frauen verletzte, sondern im Grunde genommen ja nur ein Blatt Papier.
Die öffentliche Entrüstung scheint also andere Gründe zu haben als das, was Ameti effektiv getan hat – ein Umstand, der nicht nur mir auffällt, sondern überraschenderweise eben auch dem eingangs erwähnten Roger Köppel. Der SVP-Politiker und Weltwoche-Chefredaktor ergreift öffentlich Partei für Ameti und schwimmt damit nicht nur als Rechtspolitiker gegen den Strom, sondern (von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen) auch als Journalist. Ameti werde gerade Opfer der gleichen «Cancel Culture», die sich normalerweise gegen Angehörige seiner eigenen demografischen Gruppe (also alte, weisse, rechte Männer) richte und mit der Menschen abgestraft werden, die sich politisch nicht korrekt äussern würden. So lautet auf alle Fälle meine Zusammenfassung seines Editorials in der jüngsten Ausgabe der «Weltwoche».
So absurd es mir vorkommt, mit Rechtsaussen-Köppel einer Meinung zu sein, aber: Er hat nicht ganz unrecht. Unsere Debattenkultur hat sich unter dem Einfluss von Social Media tatsächlich verändert, nicht nur zum Besseren hin. Zwar haben heute alle (zumindest theoretisch) eine öffentliche Stimme, was Bewegungen wie #MeToo überhaupt erst möglich gemacht hat. Umgekehrt steht es aber auch Krethi und Plethi frei, sich nach Lust und Laune im Internet zu entrüsten.
Was an Köppel komplett vorbeigeht, ist, dass Menschen wie Sanija Ameti längst ihre einschlägigen Erfahrungen mit Online-Mobbing oder «Cancel Culture», wie er es nennt, gemacht haben. Jede Person, die sich in irgendeiner Form für Gleichberechtigung einsetzt, wird in den Kommentarspalten gehasst oder findet Drohungen in ihrem Posteingang – insbesondere Frauen, Secondas und Muslimas. Dafür musste Ameti garantiert nicht erst auf ein Bild vom Jesuskind zielen. Die Sexisten und Rassisten dieses Landes hatten sie lange vorher schon auf ihrer Abschussliste.
Und dann gibt es da noch einen Faktor, der mir erst nach einigen Tagen des Reflektierens so richtig bewusst geworden ist: Im Kopf von, nennen wir ihn frei erfunden mal «Heinz aus Oberpfupfikon», weckt Ametis Treffsicherheit wohl einige schlafende Hunde. Was wäre denn, wenn wir Frauen nach Jahren der Unterdrückung und Benachteiligung nicht «nur» Gleichberechtigung wollten, sondern Rache? Wie sähe unser Land aus, wenn wir uns revanchieren würden? Was, wenn wir alle so unglaublich treffsicher wären wie Sanija Ameti und damit in einer Disziplin überlegen, die bisher ihnen allein vorbehalten war: Waffengewalt?
Oder wie Roger Köppel schreibt: «Ein Wunder eigentlich, hat Ameti in ihrem Luftpistolenkeller nicht auf ein Bild von mir gefeuert.»