Kürzlich* erzählte mir eine Drittklässlerin, ihre Lehrerin habe ihr diesen Sommer verboten, in der Schule kurze Shorts zu tragen. Die Lehrerin begründete dies so: «wegen der Buben». Gehts noch, dachte ich, und erinnerte mich an letztes Jahr, als in Genf Schüler:innen aus Protest gegen die Vorschrift der Schule demonstrierten, weil ihnen verboten worden war, kurze Jupes und Shorts zu tragen. Kleidervorschriften sind nicht per se schlecht. Selbstverständlich gibt es Kleider, die an bestimmten Orten nicht angebracht sind. Ein Bademantel passt ins Hallenbad aber nicht in die Schule. Kleidervorschriften an vielen Schulen betreffen aber nicht Bademäntel, sondern Leggings, trägerlose und bauchfreie Oberteile, kurze Hosen und Röcke. Mancherorts auch Jogginghosen.
Unhinterfragte Sexualisierung von Mädchen- und Frauenkörpern
Das Verbot gewisser Kleidungsstücke an Schulen zeigt den noch immer bestehenden Konsens, dass gewisse Frauenkleider das Signal eines «leichten Mädchens» aussenden. Anders gesagt, dass man es bewusst darauf anlegt, von einem Mann angeschaut, angesprochen und für Sex gefragt zu werden. Dass man Mädchen- und Frauenkörper anhand ihrer Kleidung sexualisiert, wird als selbstverständlich hingenommen. Wieso? Damit wird bei Frauen die internalisierte Objektifizierung an die nächsten Generationen weitergegeben, als wäre es etwas Unüberwindbares. Stets müssen sich Mädchen und Frauen hinterfragen: Zeige ich zu viel Haut? Wird man meine Kleidung als Einladung sehen, mich anzustarren oder zu belästigen? Werde ich in dieser Kleidung ernst genommen und respektvoll behandelt? Ich behaupte: Es geht uns nur vordergründig um den Schutz der Mädchen («Ich will nicht, dass mein Mädchen belästigt wird») sondern vielmehr um ein konservatives Geschlechterrollenverständnis und um ein verinnerlichtes Ressentiment gegenüber Mädchen, die sich sogenannt «billig» kleiden und somit vermeintlich einer Schicht angehören, von der man sich abgrenzen will.
Ungleichbehandlung von Mädchen
Die Kleidervorschriften an Schulen schränken Mädchen viel mehr ein als Buben. Mädchen sollen gewisse Kleider nicht tragen, weil sie damit «provozieren» und anderen schaden (zum Beispiel, weil sie den Lehrer vom Unterricht ablenken). Nicht nur wird dadurch akzeptiert, dass Mädchen sexualisiert werden (oft schon in einem Alter, in dem für sie Sex noch gar kein Thema ist). Man hält damit das längst überholte Bild des triebhaften Mannes hoch, der sich beim Anblick von nackter Haut auf nichts anderes mehr konzentrieren kann.
Aus meiner Sicht sind die Kleider nicht das Problem. Sondern die Täter-Opfer-Umkehr, indem von den Mädchen erwartet wird, dass sie ihre Kleidung ändern sollen, statt die Buben und Männer ihr Verhalten.
The Male Gaze
Stattdessen vermitteln wir den Mädchen den sogenannten «Male Gaze». Aus dieser rein männlichen Sichtweise heraus ist es ok, dass die Männer die Definitionsmacht darüber haben, welche Kleidung adäquat ist – und welche nicht.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns nicht mehr von dieser männlichen Sichtweise einschränken lassen. Es darf nicht sein, dass Mädchen heute immer noch vermittelt wird, dass sie ihre Kleidung mit Hinblick auf das Wohlbefinden der Männer wählen sollen. Es darf nicht sein, dass Mädchen gelehrt wird, dass sie die Verantwortung dafür tragen, ob sie sexualisiert werden oder nicht. Und es darf nicht sein, dass die «Männer sind halt so» Haltung hochgehalten wird. Eine Haltung, die besagt, dass männliches Verhalten unveränderbar ist und die Frauen diejenigen sind, die sich anpassen müssen, wenn sich was ändern soll.
Wir leben leider immer noch in einer Welt, in der die Belästigung von Mädchen, ob im Mini Jupe oder Rollkragenpullover, alltäglich ist. Statt den Mädchen Schuld- und Schamgefühle aufzubürden, sollten wir alles daran setzen, Belästigungen zu verhindern.
Mein Vorschlag: die Vorschriften ganz abschaffen, oder aufs absolut Nötigste reduzieren für alle Geschlechter:
1. Genitalien, Gesäss und Brustwarzen sollen mit einem undurchsichtigen Kleidungsstück bedeckt sein.
2. Oberteil und Unterteil (Hosen, Shorts, Jupe, Leggins, Kleid) plus Schuhe sind ein Muss.
3. Keine diskriminierenden / rassistischen / sexistischen / gewaltverherrlichenden Texte oder Bilder auf der Kleidung.
Viel wichtiger als Kleidervorschriften finde ich, dass mit den Schüler:innen über Bodyshaming, Geschlechterstereotype, Marginalisierung, Ungleichbehandlung und Sexismus gesprochen wird. Denn Sexismus und Ungleichbehandlung sind der beste Nährboden für sexualisierte Gewalt. Wollen wir konsequent gegen sexualisierte Gewalt vorgehen, müssen wir überholte gesellschaftliche Überzeugungen loswerden.
Und wenn ihr euch immer noch Sorgen macht um freizügig gekleidete Schülerinnen, weil sie falsche Signale aussenden: Sprecht unbedingt darüber. Mit den Buben und Männern.
*Der Artikel erschien ursprünglich im Dezember 2021