Es ist 1996 und das Internet – zu diesem Zeitpunkt heisst es noch "World Wide Web" – ist vergleichsweise langweilig. Windows 95 baby!
Im selben Jahr installiert die damals 19-jährige Jennifer Ringley eine Webcam in ihrem Stundentinnenzimmer und irritiert dieses World Wide Web. Die "JenniCAM" lädt alle drei Minuten Bilder auf eine Website und zeigt Ringley beim Essen, Schlafen, Masturbieren, Arbeiten, Telefonieren, Kochen, Baden, selbst beim Spielen mit ihren Katzen. Vier Millionen Views am Tag – zu einer Zeit, als es nur 20 Millionen Internetuser weltweit gibt. Ringley posiert nicht. Die Fotos sind alles andere als schmeichelhaft. Sie zeigen einen Menschen, wie er menschlicher nicht sein könnte. Ihre Caption (damals Tagline) lautet: «the human life completely unedited".
Damit legte JenniCAM zum ersten Mal in der Geschichte die kulturellen Spannungen im Zusammenspiel von Geschlecht, Identität und Technologie offen. Sie hat jene Fragen vorweggenommen, die sich uns heute bei der Rolle von Social-Media-Plattformen und der Darstellung geschlechtsspezifischer Subjekte stellen: Junge Frauen überlegen sich dreimal, was sie posten. Die Bilder und Videos sind nahezu perfekt: Nicht zu gestellt, nicht zu abgehoben, genug nahbar, nicht zu nackt, nicht zu prüde, genug selbstbewusst, aber ja nicht egozentrisch. Zum Finish noch ein Filter obendrauf.
Aus Angst vor gehässigen Kommentaren wird jeder mögliche Fehler vermieden. Es könnte schliesslich sein, dass irgendjemand Jahre später einen impulsiven Tweet von uns ausgräbt oder sogar fälscht, um uns böswillig zu schaden. So wie im jüngsten Beispiel der Grünen-Politikerin Sarah-Lee Heinrich: Mehrheitlich männliche und ältere Twitter-User haben auf die 20-Jährige eingedroschen. Diese Beobachtung deckt sich mit meiner eigenen Erfahrung auf Social Media und derjenigen meines weiblichen Bekanntenkreises. Also verblenden wir Makel und spülen unsere Tweets und Kommentare weich, ehe wir etwas posten. Selbstdarstellung wird zur Selbstzensur. Weil wir Angst haben, menschlich zu sein. Weil die weibliche Identität nicht nur offline, sondern auch online zur präferierten Angriffsfläche geworden ist.
Jennifer Ringley ist schon lange nicht mehr im World Wide Web: «I really am enjoying my privacy now. I don't have a web page; I don't have a MySpace page. It's a completely different feeling, and I think I'm enjoying it.»
Ob die Lösung im Rückzug und in der Abwesenheit der Betroffenen oder in einer zivilisierten Online-Kultur und im respektvollen Umgang liegt, haben wir in der Hand.