Bis zu zehnmal am Tag sei sie kontrolliert worden, eine Busse von 500 Franken konnte sie trotzdem irgendwie abarbeiten. Viele ihrer Stammkund:innen, die früher oft zu ihr kamen, angenehm waren und gut bezahlten, bleiben seit dem Lockdown bis heute aus. Und auch in ihrem Heimatland litt die Wirtschaft unter der Pandemie. Darum ist es wichtiger denn je, dass sie Geld aus der Schweiz nach Hause schickt.
Das ist die Geschichte einer 40-jährigen Sexarbeiterin aus Osteuropa, die seit etwa zehn Jahren auf dem Zürcher Strassenstrich arbeitet. Sie ist eine von 11 Sexarbeiter:innen, die den Initiant:innen einer Studie der ZHAW von ihrem neuen Alltag unter Corona erzählt haben. Die Studie erschien Mitte Januar und untersucht, inwiefern die Pandemie die Lebensrealitäten der Sexarbeiter:innen im Kanton Zürich beeinflusst hat und was die getroffenen Massnahmen für ihre Arbeit bedeuten.
Massnahmen schädigten die Branche nachhaltig
Während des schweizweiten Lockdowns im März 2020 wurde auch die Sexarbeit verboten, selbst wenn sie in privaten Räumen stattfand. Im Juni 2020 traten die ersten Massnahmen in Kraft, unter denen Sexarbeiter:innen ihre Arbeit wieder aufnehmen durften: Es brauchte ein Schutzkonzept und bei engem Körperkontakt mussten die Kontaktdaten der Kund:innen erhoben werden – und das in einem Gewerbe, das stark auf Anonymität setzt. Später folgten Auflagen wie Masken- und Zertifikatspflicht sowie reduzierte Arbeitszeiten.
All das führte zu starken Umsatzeinbussen und nachhaltigem Verlust von Kund:innen, die sich Sexarbeit oft aufgrund ihrer eigenen finanziellen Lage im Lockdown nicht mehr leisten konnten. Sexarbeiter:innen, die ihre Familie in ihrem Herkunftsland unterstützen oder alleinerziehend sind, litten besonders stark unter den finanziellen Verlusten. Und viele von ihnen arbeiteten trotz Verbot weiter, so auch die Osteuropäerin aus der ZHAW-Studie – die Einnahmen waren aber viel tiefer als früher.
Wie stark die Massnahmen und die temporären Arbeitsverbote die Sexarbeit schädigten, zeigt auch ein neuer Lagebericht der nationalen Geschäftsstelle für Sexarbeit ProCoRe: Bis zu 50 Prozent weniger verdienen Sexarbeiter:innen seit Beginn der Pandemie. Viele lebten bereits vorher prekär und hatten kaum genug zum Leben. Sowohl die Studie der ZHAW als auch der Lagebericht von ProCoRe zeigen, dass viele Sexarbeiter:innen während des Lockdowns und darüber hinaus zudem kaum oder keinen Zugang zu staatlichen Ergänzungsleistungen hatten; plötzlich fehlte das Geld für Grundsätzliches wie Lebensmittel, die Krankenkassenprämie oder Medikamente. Auch die Miete bleibt horrend hoch, während die Arbeit ausbleibt – viele Frauen bezahlen für ein kleines Zimmer mehrere hundert Franken pro Woche.
In einigen Kantonen wurden zudem seit Anfang Januar 2022 noch Anträge auf Erwerbsersatzentschädigungen abgelehnt, obwohl die Ausfälle der Sexarbeiter:innen nach wie vor sehr hoch sind. Viele Einsprüche sind hängig, teilweise wurden die ablehnenden Entscheide damit begründet, dass es zurzeit keine spezifischen Einschränkungen für das Erotikgewerbe mehr gibt – und damit kein Kausalzusammenhang zwischen den Massnahmen und den Einbussen besteht.
Grosse Solidarität unter den Frauen
«Die Pandemie zeigte klar auf, was Mehrfachdiskriminierung bedeutet», sagt Lelia Hunziker, Geschäftsführerin der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ in Zürich gegenüber elleXX. Bereits vor Corona hatten viele Sexarbeiter:innen mit Schulden zu kämpfen, viele von ihnen sind Ausländer:innen ohne permanentes Aufenthaltsrecht. Wer ein prekäres Leben lebt, dem setzt ein Arbeitsverbot stärker zu. Die Pandemie zeigte aber auch auf, wofür sich viele Fachstellen seit Jahren einsetzen: Sexarbeit ist Arbeit. «Dass Sexarbeiter:innen sich überhaupt für Erwerbsausfallentschädigungen anmelden konnten, schärft dieses Bewusstsein. Viele Frauen nehmen diese Haltung aus den letzten zwei Jahren mit: Meine Arbeit ist genauso wertig wie die einer Restaurantbesitzerin, sie ist genauso schützenswert», so Hunziker. Dass sogar die Glückskette, «der humanitäre Arm der SRG», Sexarbeit als Arbeit anerkannte, habe stark geholfen, führt Hunziker weiter aus. Zudem sei die Unterstützung durch private Initiativen gross gewesen: Einige Freier hätten die Sexarbeiter:innen weiterhin finanziell unterstützt, ohne dass sie ihr Angebot in Anspruch nahmen. Es wurden Essensausgaben ins Leben gerufen, Lebensmittelgutscheine verteilt. «Und auch unter den Frauen selber spürten wir eine grosse Solidarität und Hilfsbereitschaft», sagt Hunziker.
Aber sie kritisiert: Die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie seien für die breite Bevölkerung bestimmt gewesen, die Lebenswelt der Sexarbeiter:innen nicht mitgedacht worden. Einige Massnahmen, wie etwa die Aufnahme der Kontaktdaten, waren für Sexarbeitende schlicht nicht umsetzbar. Weder auf kantonaler noch auf Bundesebene wurden Sexarbeiter:innen und Fachstellen aus der Branche einbezogen: «Man hat über Sexarbeitende gesprochen, nicht mit ihnen.» Ein verheerender Fehler, den die Mitarbeitenden der Fachstellen selber beheben mussten: «Kurz nach dem Lockdown haben wir eine nationale Koordination aufgegleist, haben mit Sexarbeitenden, Betrieben und Fachstellen ein Schutzkonzept erstellt und weitere Grundlagen und Informationen erarbeitet.», erklärt Hunziker.
Für sie ist nun wichtig, ein Learning aus den letzten zwei Jahren zu ziehen. Die Massnahmen hätten die Sexarbeit unverhältnismässig stark getroffen, aber auch gezeigt, welche Hilfestellungen jetzt nötig sind. Das macht auch der ProCoRe-Bericht deutlich: Bund und Kantone müssen Arbeiter:innen in Krisensituationen schützen und unterstützen - auch im informellen Sektor und unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Konkret bedeutet das: Sexarbeiter:innen brauchen einen besseren, unbürokratischen Zugang zu alternativen Einkommensquellen und staatlicher Hilfeleistung in Notsituationen, schreiben die Autor:innen der Studie. Es sei zudem zentral, «dass in Zukunft Sexarbeitende sowie spezialisierte Fachstellen für Sexarbeitende in Entscheidungsfindungsprozesse miteinbezogen werden Massnahmen, welche Sexarbeitende betreffen, müssen so gestaltet sein, dass sie von Sexarbeitenden auch umgesetzt werden können und ihr Schutz gewährleistet wird.» Nur so könne die Pandemie effektiv bekämpft und verhindert werden, dass sich die Situation der sogenannten working-poor noch weiter verschlechtert.