Reformen brechen Machtstrukturen auf, weil sie grundlegende Änderungen bedeuten. Reformen sind darauf ausgelegt, Infrastrukturen zu modernisieren, damit diese für die Zukunft taugen. Modernisierung funktioniert nur nachhaltig, wenn sie von jener Generation erwirkt, gestaltet und getragen wird, die mit den reformierten Infrastrukturen in der Zukunft leben muss. In der Schweiz sind wir weit weg von zukunftstauglichen Reformen. Weil wir ein Machtproblem haben.
Die Demokratie ist wohl die wichtigste Infrastruktur der Schweiz; aus ihr leitet sich die Gestaltungsmacht aller anderen Infrastrukturen ab. Die Abstimmungsergebnisse zeigen, dass ältere Menschen Reformen gegenüber skeptischer sind als jüngere. Besonders gross ist diese Skepsis, wenn es um die Reform der Infrastruktur Demokratie selbst geht: Mit 65 Prozent haben die Stimmberechtigten im Mai dieses Jahres die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre im Kanton Zürich abgelehnt. Eine solche Reform der Demokratie hätte bedeutet, dass diese Infrastruktur durchlässiger für jüngere Menschen geworden wäre. Und wenn eine Infrastruktur vermehrt durchlässig für jüngere und eingewanderte Menschen wird, verlieren die Alteingesessenen Macht.
Das Paradoxe daran ist: Je länger mit solchen Reformen der Infrastruktur zugewartet wird, umso schwieriger sind sie durchzubringen. Gemäss dem Bundesamt für Statistik steigt die Zahl der über 65-Jährigen bis ins Jahr 2030 im Vergleich zu heute um 30 Prozent und bis 2050 sogar um 70 Prozent. Dies bedeutet, dass es zu einer noch stärkeren Machtverschiebung kommen wird – hin zur älteren und alteingesessenen Bevölkerungsschicht.
Homogen, konserativ, gelähmt
Das Durchschnittsalter im Nationalrat beträgt heute 51 und im Ständerat 56 Jahre. Die Konsequenz: Die relative Homogenität – nicht nur hinsichtlich Alter, sondern auch hinsichtlich Geschlecht, Migrationshintergrund oder sozialem Status – führt zu einem Konservatismus im Parlament, der das Land jetzt schon lähmt.
Wir beobachten im Sexualstrafrecht, wie das Parlament an der progressiven Bevölkerung vorbeipolitisiert. Wir beobachten bei der Einbürgerungspolitik, wie das Parlament die Einbürgerungshürden – die rigorosesten in ganz Europa – partout nicht senken will und über zwei Millionen Menschen in der Schweiz davon ausschliesst, demokratisch darüber mitzubestimmen, was auch sie mitbetrifft. Wir beobachten bei der Gleichstellungs- und Sozialpolitik, wie das Parlament es nicht auf die Reihe kriegt, eine Elternzeit einzuführen, wie sie alle progressiven europäischen Länder schon lange kennen.
Und das nicht etwa, weil das Parlamentes nicht verstanden hätte, dass im 21. Jahrhundert Gleichstellung für das Fortbestehen einer leistungsfähigen Wirtschaft unabdingbar ist. Und eine Elternzeit es Müttern vereinfacht, nach der Niederkunft weiterhin in einem hohen Pensum tätig zu sein, was wiederum zu höheren Steuererträgen sowie erhöhten Beitragszahlungen an soziale Infrastrukturen wie die AHV führen würde. Vielmehr soll hier – wie bei den Eingewanderten auch – um jeden Preis verhindert werden, dass progressive und wirtschaftlich erfolgreiche Mütter und Väter die gefestigten Machtstrukturen schleifen. Es ist schliesslich auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die es Elternteilen ermöglicht, sich aktiv politisch zu betätigen und damit eben Macht auszuüben.
Zurück in die Zukunft
Und schliesslich beobachten wir auch im Europadossier, wie sich Bundesrat und Parlament am Souveränitätsmythos der 1960er-Jahre festklammern und so die europapolitische Handlungsfähigkeit der Schweiz blockieren. So weit blockieren, dass sie etwa mit dem Horizon-Ausschluss der Schweiz die Wettbewerbsfähigkeit des Forschungs- und Wirtschaftsstandortes Schweiz schwächen und die Zukunft junger Forscher:innen behindern. Und darüber hinaus verhindern, dass die Schweiz weitere europäische Abkommen abschliessen kann, wie etwa Creative Europe, das Programm der Europäischen Union für die Kultur- und Kreativbranche, das den Wettbewerb unter den Kulturschaffenden in Europa fördert.
Und wenn Bundesrat und Parlament aus Machtverlustängsten weiterhin im Reformstau verharren, wird es nicht lange dauern, bis neben Dänemark auch weitere europäische Länder die Schweiz vom Thron des wettbewerbsstärksten Landes der Welt stossen.
Es gibt nur einen Weg, wie die Schweiz den Super-GAU aufhalten kann: Wir müssen endlich über die festgefahrenen Machtstrukturen in diesem Land sprechen.
Sexismus, Mobbing, Lohnungleichheit am Arbeitsplatz? Absolute No-Gos, dennoch nehmen es viele Frauen hin. Das darf nicht sein. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Rechtsschutzversicherung von Frauen für Frauen. Wehr dich.