Heute mit der Frage von Céline (32): Was suchen Männer im Bordell?
Liebe Céline
Du schneidest ein sensibles Thema an, das wohl viele Frauen umtreibt – aus geschlechterpolitischem Interesse und (falls in einer heterosexuellen Beziehung) vielleicht auch mit Blick auf den eigenen Partner.
Die Motive von Freiern sind wissenschaftlich dürftig untersucht. Recht gut belegt ist aber: Freier sind kein spezieller Ausschnitt der männlichen Bevölkerung. Es gilt die sogenannte «Jedermann-Hypothese». Sie besagt, dass sich Freier bezüglich Alter, Einkommen, Bildung, Beruf, Familienstand, Persönlichkeit etc. nicht grundsätzlich von jenen Männern unterscheiden, die keine sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Auch lässt sich die These, wonach vor allem Männer mit besonders sexistischen Einstellungen und hoher Gewaltneigung Sex kaufen, nicht wirklich bestätigen. Unklar ist, wie viele Männer Freier sind. Eine aktuelle Studie aus Deutschland hat errechnet, dass 27 Prozent aller Männer in Deutschland in ihrem Leben schon einmal für Sex bezahlt haben – und vier Prozent im letzten Jahr.
Zu fragen bleibt wie immer bei solchen Selbstauskünften, wie viele Männer den Forschenden – und vielleicht auch sich selbst – gegenüber ehrlich sind. Was sich jedoch mit Bestimmtheit sagen lässt: Während (fast) alle Männer schon einmal Pornos geschaut haben, ist Sexkauf kein «zwangsläufiges» Element der männlichen Normbiografie. Angemessen und hilfreich scheint in dieser Situation eine grundsätzlich sachlich-vermittelnde Haltung jenseits von Normalisierung («Das macht doch jeder») und Dämonisierung («Das sind alles Gewalttäter»).
Mit dieser Einordnung ist aber deine Frage noch nicht beantwortet: Was suchen Männer bei Sexarbeiterinnen?
Wichtig scheint mir, sich bewusst zu halten, weshalb Sex für Männer so wichtig ist. Nein, es ist nicht das Testosteron und auch nicht die triebhafte Natur des Mannes, die ich heranziehen möchte. Denn es ist mittlerweile recht gut untersucht, dass solche Bezüge zur Biologie und Tierwelt vor allem entstanden sind, um dem Patriarchat den Status einer «natürlichen Ordnung» zuzuschanzen. Ich halte eine Erklärung, die auf die Sozialisation verweist, für plausibler und hilfreicher. Ihr Kerngedanke: Männliche Sozialisation verlangt von Jungen, alle Impulse und Bedürfnisse auszublenden und zu unterdrücken, die «unmännlich» wirken könnten.
Ganz oben auf der Streichliste stehen Gefühle im Allgemeinen und Gefühle der Schwäche, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit im Besonderen. Auf einer körperlichen Ebene heisst das: Gehalten, gestreichelt oder getröstet werden zu wollen, ist für Männer hochriskant. Es gibt letztlich nur zwei Formen körperlicher Begegnung, die zweifelsfrei «männlich» sind: Kampf und Sex. Das aber führt dazu, dass Männer im Lauf ihres Aufwachsens lernen, alle möglichen körperlichen Bedürfnissen «Sex» zu nennen – und deshalb reflexhaft «Sex» zu wollen, auch wenn eigentlich andere Bedürfnisse unerfüllt sind. Das wirft die Frage auf, ob sexkaufende Männer selbst überhaupt wissen, was sie im Bordell suchen – und erst recht, ob sie dort finden, was sie suchen?
Sollte sich deine Frage auch konkret auf deinen Partner beziehen, so scheint mir für deine persönliche Auseinandersetzung die Frage zentral: Ist sein Verhalten kompensatorisch? Sucht dein Mann bei Sexarbeiterinnen wirklich etwas, das er auch bei dir finden könnte? Nimmt er dir etwas weg? Ob Spannungsabfuhr, Selbstvergewisserung, Dominanz, sexuelle Abwechslung oder schambesetzte Fantasien: Was auch immer seine Motive sind, die Chance ist gross, dass sie wenig mit dir zu tun haben. Gönn dir die Entlastung, dass du weder für sein Glück noch für seine sexuelle Erfüllung verantwortlich bist. Vielleicht gelingt es dir sogar, gegenüber den Sexarbeiterinnen eine gewisse Dankbarkeit zu empfinden?
Falls der Sexkauf deines Mannes nicht kompensatorisch ist, würde ich dir – sofern du dich genügend schützen und abgrenzen kannst – empfehlen, klare Bedingungen zu vereinbaren, unter denen du sein Verhalten tolerierst. Dazu gehört insbesondere die Abmachung, dass er sich safe und respektvoll verhält. Es ist seine Verantwortung, dich vor sexuell übertragbaren Infektionen zu schützen. Du könntest auch zum Schutz der betroffenen Dienstleisterinnen beitragen und von ihm einfordern, möglichst selbstbestimmte und fair bezahlte Angebote zu nutzen.
Vielleicht braucht es auch ganz konkrete Absprachen und Begrenzungen. Auf jeden Fall erachte ich es als Gewinn für die Partnerschaft, wenn es euch gelingt, das Schweigen zu überwinden und ein Verständnis zu erarbeiten, wie ihr mit seiner Bereitschaft umgehen wollt, für Sex zu bezahlen. So habt ihr auch eine Chance, allfällige kompensatorische Anteile zu identifizieren und in eure Paarsexualität zu integrieren.
Für die Auseinandersetzung deines Mannes selbst würde ich ihm primär eine Klärung der Frage empfehlen: Ist der bezahlte Sex wirklich das, was ich brauche? Für die persönliche Entwicklung deines Mannes und für die gesellschaftliche Transformation zu gerechten Geschlechterverhältnissen wäre es gleichermassen hilfreich, wenn Männer klären, was genau sie am Bezahlsex lockt – und wie viel an dieser Anziehung wirklich sexuell ist. Ziemlich sicher wird die Motivation wesentlich verschachtelter und tiefgründiger sein, als es das Klischee des notgeilen Freiers nahelegt, der rücksichtslos die schnelle Triebabfuhr sucht.
Als Faustregel gilt: Wenn ein Bedürfnis immer noch da ist, obwohl es (vermeintlich) befriedigt wurde, dann hat man eben das falsche Bedürfnis befriedigt. Dein Mann sollte sich deshalb mit folgenden Fragen konfrontieren: In welchen Situationen, Stimmungen und Bedürfnislagen gehe ich zu einer Sexarbeiterin? In welchen Konstellationen erlebe ich Wahlfreiheit, in welchen fühle ich mich getrieben und fremdbestimmt? Wie fühle ich mich vor, während und nach dem Bezahlsex? Was erfüllt und berührt mich? Was fühlt sich leer oder schlecht an? Welche Alternativen habe ich zur Verfügung? Und wie fühlt es sich an, wenn ich sie nutze?
In diesem Sinn ist Sexkauf wohl keine gute Antwort – aber eine gute Frage!
Diese Kolumne verfolgt – auf Einladung der ellexx-Redaktion – das Anliegen, einen patriarchatskritischen Blick auf Geschlechter-, Geld- und Gesellschaftsfragen beizusteuern. Unserem Kolumnisten ist es wichtig, seine Unsicherheit transparent zu machen, wo die Bereicherung durch eine reflektierte Männerperspektive aufhört – und wo das «Mansplaning für Fortgeschrittene» beginnt.
Markus Theunert ist Gesamtleiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Kontakt: theunert@maenner.ch