«Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht», schreibt unsere Verfassung fest und geht davon aus, dass Freiheit durch Gebrauch erhalten wird und durch Nichtgebrauch verkümmert. Die Bürgerrechte stehen heute sowohl Frauen wie auch Männern zu. Doch Freiheiten im Sinne von Bürgerrechten sind nur das Ergebnis von Befreiung. Sie sind nicht der tatsächliche Inhalt von Freiheit, deren Wesenskern der Zugang und die Sichtbarkeit im öffentlichen Bereich und die Beteiligung an den öffentlichen politischen Geschäften sind. Erst diese öffentliche Freiheit bedeutet die Freiheit, frei zu sein. In Europa war die Freiheit, frei zu sein, lange das Privileg der männlichen Bürger - und noch länger in der Schweiz.
Nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 wurden in Zürich lediglich etwa acht Frauen in den Gemeinderat gewählt. In anderen Schweizer Städten waren Gemeinderätinnen ähnlich spärlich vertreten. In den Folgejahren stieg die Anzahl der Gemeinderätinnen kontinuierlich und erreichte 1994 mit 48 gewählten Frauen den Höhepunkt. Seitdem sinkt der Frauenanteil stetig. Gegenwärtig sitzen 41 Frauen und 84 Männer im Gemeinderat, was einem Anteil von 32,8 Prozent Frauen und 67,2 Prozent Männern entspricht. Politik - die öffentliche Freiheit - ist 50 Jahre nach der Befreiung der Frauen immer noch Männerdomäne.
Manche mag das erstaunen. Es ist aber nur die logische Konsequenz davon, dass politische und öffentliche Freiheit ursprünglich für Männer konzipiert wurde. Sie ist seit jeher auf die männlichen Lebensumstände und Realitäten ausgerichtet, in denen der Mann Vollzeit arbeitet, sich daneben in der Politik engagiert und in der Öffentlichkeit bewegt, während die Frau im privaten Raum verborgen dem Mann den Rücken freihält. 1971 wurden die Schweizer Frauen auch auf eidgenössischer Ebene aus der Nicht-Sichtbarkeit befreit, indem man ihnen gleiche Bürgerrechte zugestanden hatte. Sie sind aber bis heute keineswegs tatsächlich befähigt, ihre öffentliche Freiheit zu gebrauchen: Schweizerinnen besitzen immer noch nicht die Freiheit, freie Frauen zu sein.
Denn die reale Möglichkeit solcher Freiheit hängt von der Überwindung von Abhängigkeit und Fremdbestimmung ab. Die Ausübung politischer Ämter im Schweizer Milizsystem hängt von der verfügbaren Freizeit und finanziellen Situation ab, sich im «Feierabendparlament» zu betätigen. Das Pensum eines politischen Amtes beträgt etwa 30 Prozent. Und weil die politische Betätigung im Milizsystem als Freizeitbetätigung gilt, ist die finanzielle Entschädigung (da kein Lohn) gering. Für den Grossteil der Frauen ist dieses Modell nicht vereinbar mit ihrem Alltag, der das Jonglieren von Beruf, Familie und politischer Freizeitbeschäftigung voraussetzt. Will frau ihre öffentliche Freiheit gebrauchen, muss sie entweder kinderlos oder genug vermögend sein, um nicht von einem Einkommen abhängig zu sein.
Solange unsere Gesellschaft die Kinderbetreuung nicht der heutigen weiblichen Realität anpasst und für alle Einkommenssituationen zugänglich macht, bleibt Politik eine Männderdomäne. Solange Frauen in finanzieller Abhängigkeit ihrer männlichen Partner leben und fremdbestimmt sind, bleibt Politik eine Männerdomäne. Und solange unsere Gesellschaft nicht die sozioökonomischen Bedingungen schafft, die Frauen für den Gebrauch ihrer Freiheit benötigen, bleibt der Slogan in unserer Verfassung männlicher Buchstabe.