Immer wieder bin ich sehr erschöpft. Insbesondere seit ich Mutter bin. Die Gründe dafür sind bekannt: teure und zu wenige Kita- und Hortplätze, schlecht bezahlte Teilzeitjobs, Partner, die zu wenig Mental Load übernehmen – die Liste lässt sich beliebig lange fortführen. Was mich aber noch mehr erschöpft, ist das Schweizer Mutterideal und die dementsprechend hohen Erwartungen und Schuldzuweisungen an Mütter. Vor allem dann, wenn die Kinder nicht der sogenannten Norm entsprechen. So wie meine: Meine Tochter hat eine Behinderung, mein Sohn ein ADHS – in den Augen der Gesellschaft sind das zwei «Problemkinder», und ich als Mutter bin die naheliegendste Verursacherin dessen.
«Warum hat deine Tochter eine Behinderung?», wurde ich schon oft gefragt. Manche suchen einen konkreten Grund, andere sind einfach neugierig. Dennoch wird mir damit oft suggeriert, ich hätte in der Schwangerschaft etwas falsch gemacht. Manche Menschen fragen ganz konkret danach, ob ich geraucht oder getrunken habe, während ich schwanger war.
Bei meinem Sohn erlebte ich die Rückschlüsse auf mich vor allem nach dem ersten Corona-Lockdown vor drei Jahren. Er machte damals eine schwere psychische Krise durch. Mit dem Ausfall der Schule, der fehlenden Tagesstruktur, die für Kinder mit ADHS besonders zentral ist, und dem Wegfall jeglicher Freizeitaktivitäten wegen Corona-Massnahmen verlor er zunehmend seine Leistungsfähigkeit und Lebensfreude und fand den Berufseinstieg danach nur sehr schwer.
Die Genderwissenschaftlerin und Soziologin Franziska Schutzbach schreibt in ihrem Buch «Die Erschöpfung der Frauen»: «Hat ein Kind Probleme, werden diese auf die Mütter zurückgeführt. Auch im Erziehungsdiskurs ist das zugespitzt worden. Viele psychologische Theorien führen die gesamte Entwicklung eines Kindes auf die Mutter zurück. Läuft etwas schief, ist es die Schuld der Mutter.» Genau das erlebe ich immer wieder mit meinen Kindern.
Als die Krise meines Sohnes begann, fühlte ich mich nicht nur allein gelassen, da kaum psychiatrische Hilfe verfügbar war, sondern auch überfordert mit den vielen impliziten und teilweise auch expliziten Schuldzuschreibungen aus der Verwandtschaft oder dem Bekanntenkreis. Zunehmend zermürbte ich mich dadurch selbst: «Bin ich schuld, dass mein Sohn nicht mehr aus der Krise kommt, die Lehre abbricht und Therapie braucht? Hatte ich als erwerbstätige Mutter zu wenig Zeit für ihn? Sollte ich jetzt nicht besser meinen Job kündigen und voll und ganz für ihn und auch meine behinderte Tochter da sein?»
«Frauen werden nicht einfach als Menschen betrachtet, von ihnen wird nach wie vor erwartet, dass sie gebende Menschen sind», schreibt Schutzbach weiter in ihrem Buch. Die Erwartungen an die Frauen sind insbesondere dann sehr hoch, wenn die eigenen Kinder eine psychische Krankheit haben, Süchte entwickeln, gewalttätig oder Opfer werden, Leistungsprobleme in der Schule oder eine chronische Krankheit oder Behinderungen haben.
Nützlich sind meine Schuldgefühle und die dadurch resultierende Erschöpfung für mich und meine Kinder nicht – für den Staat hingegen sind sie durchaus profitabel. Sparmassnahmen im Gesundheitssystem zum Beispiel können vor allem durch aufopfernde Mütter, die aus Liebe die Pflege im Privaten übernehmen und in den Krisen ihrer Kinder ihren Job kündigen, abgefangen und durchgesetzt werden. In den psychiatrischen Kliniken und auch in den Spitälern setzt man immer mehr auf eine kürzere Aufenthaltsdauer und mehr sogenannte «Home-Treatments». Die Betreuung wird nach Hause verlegt ins «Spital Mama».
Und sogar zur Beschulung von Kindern mit Verhaltensstörungen werden immer wieder Mütter als Assistenz ins Klassenzimmer zitiert oder Kinder ins Homeschooling geschickt. Bei der IV sieht es ähnlich aus: Assistenz für die Betreuung von Kindern zu Hause wird immer noch oft abgelehnt. Trotz des Reichtums in diesem Land ist es für betroffene Familien eine Tortur, Entlastung zu erhalten. Auch das Sozialsystem in der Schweiz vertraut darauf: Die Mütter werden es schon richten.
Meine Lebenswelt hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Als junge, kinderlose Frau war ich ebenfalls erschöpft, manchmal dem Burnout nahe – aber aus anderen Gründen und weitaus weniger, als ich es heute in meiner Rolle als erwerbstätige, pflegende Mutter bin. Feminismus und Inklusion kann ich daher wegen solcher und noch viel mehr Missstände in unserem System nicht mehr voneinander trennen.
Trotz der Müdigkeit, den Schuldzuweisungen, die ich schildere, bin ich nämlich privilegiert. Meine Tochter besucht eine Schule mit Tagesstruktur, mein Partner übernimmt die Hälfte der Care-Arbeit, ich konnte mir eine Psychotherapie leisten und mich in grossen Teilen von Schuldgefühlen lösen, ich habe einen gut bezahlten Job und bin gesund, weiss und Schweizerin. Ich frage mich immer wieder: Wenn ich also schon so erschöpft bin, wie geht es dann den Frauen, die weniger privilegiert sind als ich? Frauen in ähnlichen Situationen, die zusätzlich selbst eine Behinderung haben, mehrere Kinder mit schweren Krankheiten pflegen, kein Deutsch können oder zusätzlich in gewalttätigen Beziehungen und finanzieller Abhängigkeit leben?
Ich gehe daher am feministischen Streiktag am 14. Juni nicht nur für gleiche Löhne, für bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, für Respekt oder gegen meine Erschöpfung als pflegende Mutter auf die Strasse. Sondern auch aus Solidarität für noch erschöpftere Mütter – viele von ihnen werden am 14. Juni nicht auf der Strasse zu sehen sein: Sie können ihr Kind mit Behinderung oder einer Krankheit zu Hause nicht alleine lassen.
Meine Kinder haben mich nicht nur politisiert, wie ich in einer meiner letzten Kolumne hier schrieb, sie haben mich auch solidarischer und wütender gemacht. Ich wünsche mir für den feministischen Streiktag am 14. Juni, dass wir alle Lebenswelten laut, sehr laut mit einbeziehen. Auch die der pflegenden Mütter.