Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, an den letzten Krieg in Europa. Ich war zehn Jahre alt, in der vierten Klasse, und meine Freundin Nora Gnädinger gewöhnte mir mit einem Satz die Selbstverständlichkeit des Friedens ab.
Ich hatte irgendeinen blöden Witz gerissen, nach der grossen Pause um zehn Uhr. Und anstatt zu lachen, packte mich Nora an den Schultern, schüttelte mich, und schrie mir ins Gesicht: «Jetzt ist nichts mehr lustig, Rosanna! Jetzt gibt es Krieg!»
1994 war das, und der Konflikt auf dem Balkan schwappte zeitgleich mit der Flüchtlingswelle gerade auf die Schweiz über. Plötzlich war er in aller Munde, dieser neue und undenkbare Krieg in Europa, und plötzlich war auch ich davon betroffen. Ich, wohl ein Kind der Unterschicht, nur wenige hundert Meter von der grössten offenen Drogenszene Europas, dem Platzspitz, aufgewachsen, war plötzlich privilegiert. Eine Einheimische, die schon da war, als die anderen kamen. Ein Kind des Friedens.
Die anderen, das waren die Kinder aus dem Kosovo. Die Fremden, die eine seltsame Sprache sprachen, aus einem fernen Land kamen und Verletzungen in sich trugen, die wir nicht kannten. Sie wussten sich nur langsam in das kindlich-komplexe Ökosystem unseres Pausenplatzes einzufügen – und dennoch schneller, als dies Erwachsene je könnten. Nach einigen Wochen Prügelei, Tränen, Missverständnissen und entnervten Lehrern fanden wir unseren Flow und haben den zum Teil bis heute behalten.
Generell war die Schweiz gut zu den Kosovarinnen und Kosovaren. Um die 50’000 von ihnen flüchteten vor dem Krieg in ihrer Heimat hierher, kein anderes Land auf der Welt hat prozentual mehr von ihnen Asyl gewährt. Die meisten kehrten nach dem Krieg in den Kosovo zurück – ausgerüstet mit 2000 Franken Startkapital aus der Schweiz pro Kopf.
Die Schweiz, deine Freundin und Helferin: Ein Szenario, das wegen Burka- und Minarettverboten, Diskussionen um Frontex und Ausschaffungsinitiative beinahe in Vergessenheit geraten ist.
Heute scheint es näher denn je. Die helvetische Solidarität mit Menschen aus der Ukraine scheint gerade grenzenlos, und sie macht mich glücklich. Nach all den Jahren, in denen die Schweiz wie der Bergfried in der hochgesicherten Festung Europas erschien, sind wir endlich wieder Menschen. Das fühlt sich richtig an.
Und dennoch sehe ich die Kehrtwende am Horizont bereits heraufdämmern. In einer dringlichen Sitzung des Parlaments zur Ukraine-Krise Mitte März brillierte SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi mit einer Aussage, die mir das Blut in den Adern gefrieren liess. Er sagte: «Wir fordern Frau Bundesrätin Keller-Sutter auf, dieselben Fehler und Probleme, die mit den Balkan-Flüchtlingen begangen wurden, nicht zu wiederholen. Ausländer, welche in der Ukraine wohnen, aber eben nicht Ukrainer sind, sollen in ihr Heimatland zurückgehen. Es darf nicht sein, dass Nigerianer oder Iraker mit ukrainischen Pässen plötzlich 18-jährige Ukrainerinnen vergewaltigen!»
Darüber, dass sich ein Politiker von Rechtsaussen plötzlich mit sexualisierter Gewalt beschäftigt, möchte ich an dieser Stelle gar nicht reden. Das ist eine alte Leier. Rechte Männer interessieren sich seit Längerem in der Schweiz immer dann für die Rechte von Frauen, wenn sie diese in der Einwanderungsdebatte rassistisch instrumentalisieren können. Was mir wirklich zu denken gibt in Bezug auf diesen Satz, ist meine Erfahrung mit den Kosovar:innen. Oder genauer: Mit den Erfahrungen, die meine Generation – und vor allem die Kosovar:innen! – im Anschluss an die Flüchtlingswelle aus dem Balkan in der Schweizer Gesellschaft gemacht haben. Ich weiss nicht genau, wann und warum es passierte. Aber plötzlich waren die Flüchtlinge in unserer kollektiven gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht mehr Opfer, sondern Täter. Aus Kriegsvertriebenen wurden Schläger, aus Kindern Bullys, aus Kosovar:innen «Jugos».
Ich frage mich: Wie lang wird es dauern, bis dieses Schicksal auch den Ukrainer:innen widerfährt? Wie viele von ihnen mag unser Land zu tragen, bevor die Stimmung kippt und wir sie als Invasoren wahrzunehmen beginnen? Wann wird die Schweiz sich daran erinnern, dass wir im Kern ein Volk von geizigen Berglern sind, die sich vor dem Andersartigen fürchten?
Meine Hoffnung liegt auf den Pausenplätzen dieses Landes. Nach einigen Wochen Prügel, Tränen und entnervten Lehrern fanden wir 1994 dann nämlich doch noch zusammen. Über Räuber und Poli und Pausenbroten sind Freundschaften entstanden, die zum Teil bis heute halten.
Und das ist wohl die schönste Blume, die auf kriegsverbrannter Erde wachsen kann.
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