Es gibt eine kollektive Vorstellung von einer «Normfrau» in unserer Gesellschaft. Sie ist weiss, cis-geschlechtlich (das heisst, sie identifiziert sich mit ihrem biologischen Geschlecht), heterosexuell, nicht behindert und aus der Mittelschicht. In dieser Kolumne trägt diese «Normfrau» einen riesigen Schlüsselbund, der ihr Zugang zu vielen Türen gewährt. Und viele weitere Türen stehen ihr offen, ohne dass sie überhaupt einen Schlüssel dazu braucht. Der weisse Feminismus dreht sich um diese Frau. Er stellt vorwiegend ihre Bedürfnisse und Erfahrungen ins Zentrum, er versucht, immer mehr Türen für diese Frau zu öffnen. Dieser Feminismus nennt sich selber nicht weiss. Er nennt sich einfach Feminismus, weil es für ihn normal ist, sich um die «Normfrau» zu kümmern. Der weisse Feminismus wird auch nicht nur von weissen Menschen ausgeübt, er ist ein System, ein Konzept, dessen sich viele Menschen bedienen. Der Fokus, den er setzt, schliesst Menschen aus, die diesen Kategorien nicht entsprechen.
Viele Ansätze und Initiativen sind zwar «gut gemeint», setzen sich jedoch ausschliesslich für die Wünsche, Rechte oder Förderung einer bereits privilegierten Gruppe von Frauen ein und marginalisieren so weniger privilegierte, von Sexismus betroffene Menschen weiter. So wird beispielsweise dafür gekämpft, dass weiblich gelesene Personen gleich viel verdienen wie männliche an derselben Position. Dabei geht vergessen, dass beispielsweise Schwarze Frauen aufgrund von Rassismus oftmals gar nicht erst die Möglichkeit für eine entsprechende Stelle erhalten. Oder es wird nach Schulabschlüssen gemessen, wobei ignoriert wird, dass Bildung nicht für alle gleich zugänglich ist. Ein weiteres Beispiel ist, dass «Normfrauen» durch feministische Bewegungen zwar mehr Möglichkeiten erhalten, höhere Positionen mit mehr Verantwortung und Sichtbarkeit im beruflichen Leben zu besetzen, dann aber oft zu Hause Frauen aus marginalisierten Gruppen angestellt haben, die sich um ihre Kinder kümmern oder den Haushalt machen.
Auch auf meinem Weg als Schwarze Frau, aufgewachsen in einem Haushalt mit begrenzten finanziellen Möglichkeiten, gab es bisher viele Hürden, verschlossene Türen, es fehlte mir immer wieder an Schlüsseln. Manchmal wusste ich gar nicht, wo die Türen sind. Und wenn, dann standen da Türsteher:innen, die dafür sorgten, dass ich den Raum nicht betreten konnte. Einige Türen waren aus Glas. Ich konnte hineinsehen, beobachten, wie sich die Menschen dahinter unterhielten und amüsierten, wie sie weitere Türen öffneten und hinter ihnen verschwanden. Doch der Zutritt blieb mir verwehrt. Wie viele BIPoC (Black, Indigenous, and People of Color) musste ich etwa in der Schule stets besser sein, um der stark stereotypisierten Vorstellung der Lehrpersonen zu widersprechen. Mir wurde auch gesagt, dass ich vor einem seriösen Vorstellungsgespräch mein Haar – ein natürlicher Afro – bändigen müsse.
Räume sind oftmals schon deswegen für uns nicht zugänglich, weil rassistische (Mikro-)Aggressionen an der Tagesordnung stehen, sodass der emotionale Aufwand des Widerstands schlichtweg zu gross ist. Für meine Forschungszwecke etwa musste ich während der gesamten Laufbahn so viel Energie und Zeit dafür investieren, zu erklären, dass und wie Rassismus existiert, dass ich für die Erforschung des Themas selbst nur sehr limitierte Ressourcen hatte. Viele Türen bleiben für mich als Schwarze Frau verschlossen, weil Schwarze Frauen nicht Teil der Vorstellung dieser Räume sind.
Oder wie viele nicht-weisse Frauen waren an deinem letzten Business-Anlass vertreten? Wie viele nicht-weisse Frauen waren bei der letzten Preisverleihung nominiert, bei der du anwesend warst? Wie viele nicht-weisse Frauen waren an der letzten Geburtstagsparty, zu der du eingeladen warst? Wann hast du das letzte Mal ein Buch gelesen von einer nicht-weissen Frau, die über etwas anderes als über ihre Unterdrückung schreiben durfte? Es ist nicht so, dass es uns nicht gibt. Es gibt uns nur nicht in eurer Vorstellung.
Manchmal wurde mir eine Tür geöffnet – durch einen Akt der Solidarität oder ein Erkennen meiner Fähigkeiten, manchmal per Zufall. In anderen Momenten habe ich Türen eingetreten. Nicht aus Wut, sondern aus der Überzeugung, dass der Raum für alle zugänglich sein sollte. Und dann gab es die Türen, die offenstanden, die ich jedoch nicht gesehen hatte. Wie ich auch hineingelangte: Sobald ich drin war, vergass ich wie die meisten anderen Menschen im Raum die Türen hinter mir. Sie wurden unsichtbar, es fühlte sich plötzlich normal an, im Raum zu sein.
Doch die Realität ist, dass diese Türen für viele Menschen verschlossen sind. Unsichtbare Barrieren, gesellschaftliche Strukturen und Vorurteile versperren ihnen den Zugang. Wir alle beginnen mit einem unterschiedlichen Zugang zu Türen, mit unterschiedlichen Schlüsseln. Auf meinem Weg wurde mir bewusst, dass es nicht ausreicht, selbst durch Türen zu gehen; es ist meine Aufgabe, sie auch für andere zu öffnen, diesen die Hand zu reichen und Zugänge zu schaffen. Und vor allem: die Türen hinter mir nicht zu vergessen.
Wir müssen über unangenehme Themen sprechen, müssen lernen, unsere Privilegien zu erkennen, Netzwerke aufzubauen und aktiv dafür zu sorgen, dass Menschen aus marginalisierten Gruppen Zugang zu diesen Netzwerken erhalten. Aber auch finanzielle Unterstützung da platzieren, wo weniger Privilegien vorhanden sind.
Weisser Feminismus hat bedauerlicherweise die Geschichte der feministischen Bewegung dominiert. Dennoch können wir dafür sorgen, dass die feministische Zukunft vielfältiger wird.
Feminismus sollte mehr sein als nur der Aufstieg einiger weniger Frauen in privilegierte Positionen. Es ist an der Zeit, ihn so zu gestalten, dass er die tieferen Wurzeln der Unterdrückung beleuchtet sowie in Frage stellt.
Die Kritik am weissen Feminismus wird ungern gehört. Aber sie richtet sich nicht persönlich gegen einzelne Feminist:innen mit weisser Hautfarbe, sondern gegen ein System, gegen Ausschlüsse im feministischen Handeln. Anstatt den Vorwurf ablehnend zurückzuweisen, können wir zuhören, reflektieren, dazulernen, Wissen teilen und dabei dem Drang widerstehen, uns selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Wir können uns daran erinnern, dass sich in einer Welt, die von Wettbewerb und Konkurrenz geprägt ist, Türen gemeinsam viel einfacher öffnen lassen und es zudem auch mehr Spass macht, in diversen Räumen zu sein.
Die feministische Bewegung kann nur grösser werden, wenn wir es zur Norm machen, regelmässig zurückzuschauen und an die Türen zu denken, die für viele Menschen verschlossen sind. Es liegt an uns, diese Türen aktiv zu öffnen und eine inklusivere feministische Zukunft zu gestalten. Lasst uns eine Feminismus-Bewegung gestalten, die nicht nur die Spitze erobert, sondern die Unterdrückung in all ihren Formen überwindet.
Wem hast du zuletzt eine Tür geöffnet?
Weiterführende Empfehlung: Was ist weisser Feminismus und warum soll er gecancelt werden? Wer profitiert vom Mainstream Feminismus und wer nicht?Diese Fragen stellt Anja Glover in ihrem Podcast «einfach LEBEN» Sibel Schick, welche ein Buch mit dem Titel «Weissen Feminismus canceln» veröffentlicht hat. Die Folge könnt ihr euch hier anhören.