Nachmittags in einem Café in der Stadt Zürich. Joël Luc Cachelin ist auf der Durchreise. Er kommt aus der Ostschweiz und ist auf dem Weg nach Olten, wo er lebt. Für uns legt er einen Halt in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs ein. 

Joël Luc Cachelin ist Zukunftsforscher und Autor. Der Zukunft widmet er sich auch in seinen Büchern. Sein jüngstes handelt von lebenswerten Städten, davor schrieb er zur «veganen Revolution». In den Männerfragen, bei denen wir Männer fragen, was sonst nur Frauen gefragt werden, spricht er über sein Hochstapler-Syndrom sowie seinen Weltschmerz. 

Wir steigen gleich mit deinem Thema ein: Wie wird das Jahr 2025?

Ich glaube, 2025 wird ein Jahr, in dem sich der Nebel lichtet: Ist KI nur ein Hype oder relevant? Frankreich und Deutschland erhalten neue Regierungen. In den USA wird sich zeigen, wie autoritär Trump wirklich regiert. Auch bei den Kryptowährungen und im Ukraine-Krieg wird es mehr Klarheit geben.

Warum bist du Futurist? Das ist ungewöhnlich weitsichtig für einen Mann.

(Schmunzelt.) Ich arbeite gerne interdisziplinär und multimedial. Das könnte man als Weitblick beschreiben. Gleichzeitig sind das auch die Gründe, weshalb ich bei der Universität herausgefault bin. Mein ursprünglicher Plan war eine akademische Karriere. Ich musste aber feststellen, dass man da sehr monothematisch und quantitativ arbeitet. Und das System ist sehr hierarchisch ... 

Das liegt euch Männern ja nicht so, das mit den Hierarchien.

Es gibt zwei Varianten der Geschichte. Die eine ist: Mein Freiheitsdrang war zu gross, und ich wollte mich nicht an das System anpassen. Die andere ist: Ich habe nicht mitgebracht, was es für eine akademische Karriere gebraucht hätte.  

Welche erzählst du?

Natürlich dass ich freiheitsliebend und zu wenig angepasst war (lacht).

Du Rebell. Welche Eigenschaften braucht ein Zukunftsforscher?

Neugierde ist wichtig. Ein provokatives Element sollte man auch in sich tragen. Es ist sinnvoll, als Zukunftsforscher nicht nur dem Mainstream nachzuplappern und ein Gespür dafür zu haben, wann man die Gegenposition einnehmen muss. 

Klingt nicht nach klassisch männlichen Skills. 

Ich spiele natürlich ein bisschen mit Provokationen. Das ist ein Image, das ich mir bewusst zugelegt habe. Aus der Ferne ist es nicht schwierig, diese Haltung zu vertreten. Anders ist es in direkten Begegnungen.

Zum Beispiel?

Halte ich einen Vortrag vor 300 Leuten und erzähle etwas, das ihnen total gegen den Strich geht, entsteht schon eine unangenehme Stimmung. 

Woran hast du Sensibelchen denn diese unangenehme Stimmung festgemacht? 

(Schmunzelt.) Man blickt in verschlossene Gesichter, die Haltung ist abwehrend, und es liegt etwas Aggressives in der Luft. Oft sind solche Gruppen übrigens sehr monokulturell. Also ein Saal voller Männer über 50, im dunklen Anzug, karrieregeil. Und nur an meinem Vortrag, weil sie müssen oder es sich so gehört. Mittlerweile habe ich genug Erfahrung, um solche Situationen gut durchzustehen. Ich habe auf der Bühne meine Rolle, gehe ich nach Hause, streife ich diese ab.

Joël Luc Cachelin
Ich bin ein Generalist. Das macht mich angreifbar.

Sprechen wir über Hochstapelei, das sogenannte Impostor-Syndrom: Hast du oft Angst, die Leute könnten merken, dass du das alles gar nicht kannst?

Das gibt es immer wieder mal. Ich glaube, es hat mit meiner Persönlichkeit zu tun. Ich bin eher schüchtern, zurückhaltend und nicht in allem wahnsinnig selbstbewusst. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass ich ein Generalist bin. Das macht mich angreifbar. In einem Publikum gibt es immer Leute, die sich besser mit dem Thema auskennen als ich.

Das ist so typisch Mann, dass du dein Wissen und deine Fähigkeiten herunterspielst.

(Lacht herzhaft und schaut fragend.) Ist es das? Also ich würde dir da widersprechen.

Wir halten fest: Du bist nicht sehr selbstbewusst, trotzdem hast du einen ziemlichen Geltungsdrang, oder?

Haha, das stimmt. Diesen Drang muss ich in meinem Beruf haben. Aber zugegeben: Ich pflege eine Hassliebe, sowohl zu den Vorträgen als auch zu den sozialen Medien. Auf der einen Seite finde ich es cool, wenn man tolle Fotos oder einen spannenden Beitrag posten kann. Auf der anderen Seite finde ich es fürchterlich, was beispielsweise auf LinkedIn abgeht. Das ist wie Hunger Games: Alle versuchen, sich in die Arena zu drängen und besser als die anderen dazustehen. 

Gemäss meinen Recherchen hast du zwölf Sachbücher geschrieben. Braucht es wirklich noch einen Mann, der über lebenswerte Städte und Veganismus schreibt?

(Überlegt lange und sagt dann mehr zu sich:) Hm, ja, braucht es das? (Überlegt noch mal sehr lange.) Doch, ich glaube, es braucht diese Beiträge schon. Ich habe den Anspruch, bei jedem Thema einen Zugang zu finden oder einen Aspekt zu beleuchten, der noch nicht behandelt worden ist und neue Fragen aufwirft.

Aber wie wärs mal mit was Nettem, einer Liebesgeschichte oder so? 

(Schmunzelt.) Das kann ich leider nicht. Für so etwas braucht es viel Einfühlungsvermögen, um sich den Figuren annähern zu können, und Fantasie, um eine Geschichte zu entwickeln. Das liegt mir nicht. Bei mir sieht zwar vieles bunt aus, aber eigentlich kombiniere ich – klassisch männlich – oft einfach A mit B und versuche herauszufinden, was passiert. 

Joël Luc Cachelin
Wie sorgen wir dafür, dass weder Menschen noch Künstliche Intelligenz dümmer werden?

Dich beschäftigen Themen wie KI oder Digitalisierung. Alles ziemlich komplex. Verstehst du das wirklich? 

Es sind tatsächlich sehr komplexe und vor allem vielschichtige Themen. Aber genau das finde ich so spannend. Ich mag es, wenn es kompliziert ist und Zielkonflikte auftauchen. Es geht vielfach im Kern um Technologie, aber eben auch um die gesellschaftspolitischen Fragen, die sich daraus ergeben. Gerade bei KI gibt es viele Herausforderungen. 

Die da wären?

Wir werden uns als Gesellschaft mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir mit Wissen oder lebenslangem Lernen umgehen wollen. Wie wichtig sind uns qualitativ hochstehende Medien? Wie sichern wir unsere Kreativität und unsere Gedanken, die unverzichtbar für hochwertige KI-Modelle sind? Wie sorgen wir dafür, dass weder Menschen noch Künstliche Intelligenz dümmer werden?

Wie zuversichtlich bist du in Bezug auf die Zukunft mit KI?

Das ist ein politisches Thema. In der Schweiz dominiert eine eher bürgerliche, wirtschaftsfreundliche Politik. Diese ist aus meiner Sicht zu wenig bereit, in gesellschaftspolitische Aspekte zu investieren, die Grundlage für eine gute KI-Zukunft sind. Wie Stadtentwicklung, Nachhaltigkeit, lebenslanges Lernen, Geschichts- und Zukunftskompetenz, Urheberrechte an Texten und Bildern. Wir können natürlich sagen, die Wirtschaft kann das übernehmen – das ist die aktuelle Haltung in der Schweiz. 

Aber …?

Aber die Wirtschaft hat eine eigene Optimierungslogik. 

Vielleicht würde es helfen, wir hätten statt all der rationalen Frauen mehr emotionale Männer an der Spitze?

(Lacht.) Bestimmt. Im Ernst: Es braucht vor allem Menschen an der Spitze, die selbstkritisch sind. Gerade bei Männern wäre es wünschenswert, dass sie ihre eigenen Schwächen identifizieren, sich diese eingestehen und wo nötig Hilfe holen. Das würde vieles verändern.

Joël Luc Cachelin
Ich frage mich schon, ab wann ich zu jenen alten weissen Männern gehöre, die ich immer so kritisch beäuge. 

Für euch Männer sieht die Zukunft nicht rosig aus. Trump, Putin und andere konservative Mächte sind auf dem Vormarsch. Macht dir das Angst?

Ja, es ist eine unbequeme Zeit. Und es fällt auf, wie sehr alte Männer mit Männerbildern aus dem 20. Jahrhundert unbedingt noch ihre Spuren hinterlassen wollen und glauben, die Zukunft zu kennen.

Wie kommst du mit Weltschmerz klar?

In meiner professionellen Rolle achte ich darauf, dass der Weltschmerz keinen Raum einnimmt. Ich sehe meine Rolle als Zukunftsforscher darin, chancenorientiert zu argumentieren und die Menschen neugierig zu machen auf die Zukunft. Sie sollen erkennen, dass wir die Zukunft gestalten können und dass das sehr viel Spass macht. Ich bin zudem überzeugt, dass der Mensch ein intelligentes Wesen ist. Ich glaube an den Menschen, seine Kreativität und seinen technologischen Erfindergeist.

Ich hoffe, du hast recht. Anderes Thema: Du bist 43. Wie fühlt es sich an, langsam unsichtbar zu werden in der Gesellschaft?

(Schmunzelt.) Es ist ein tolles Alter. Man hat viele Freiheiten und ist nicht mehr wie mit 20 wegen allem verunsichert. Das macht Spass. Aber ich frage mich schon, ab wann ich zu jenen alten weissen Männern gehöre, die ich immer so kritisch beäuge. 

Und, wann ist es so weit?

Sag du es mir. Mit 50?

Ich hätte dir jetzt noch etwas mehr Zeit gegeben, so bis 55.

(Lächelt erleichtert.) Immerhin.

Bevor wir zum Schluss kommen, noch ein bisschen Beauty-Talk: Du hast so tolle Haare. Was machst du damit? 

(Ist geschmeichelt.) Nun, ich habe am liebsten, wenn sie sich schön locken. Dafür habe ich ein paar Pflegeprodukte, die sie auch zum Glänzen bringen. Ausserdem gehe ich alle sechs Wochen zum Coiffeur. 

Und warum trägst du sie nicht länger?

Das hatte ich mal, aber inzwischen habe ich einen Stirnansatz und eine Haardichte, die das nicht mehr zulassen.

Joël Luc Cachelin
Meiner Psychohygiene helfen meine Tiere. Ich habe zwei Katzen und 16 Hühner.

Hast du sonst ein Beautygeheimnis?

Wasser. Das Element ist mir sehr wichtig. Ich gehe gerne baden und in Thermalbäder. Meiner Psychohygiene helfen meine Tiere. Ich habe zwei Katzen und 16 Hühner. Wenn ich bei den Hühnern bin, ist das eine richtige Pause. Ich vergesse alles andere. Das ist der ideale Ausgleich zur Bildschirmzeit.

Zum Abschluss bitte eine Prognose: Wann übernehmen Frauen die Weltherrschaft?

Allen Woke-Gegnerinnen und -Gegnern zum Trotz: Ich plädiere dafür, dass wir in Zukunft alle Formen von Intelligenz berücksichtigen. Die von Männern, von Frauen, von Tieren, Pflanzen, Pilzen, ja sogar von Viren.