Lior Etter war Profifussballer beim FC Luzern, hat den Spitzensport aber schon kurz nach dem Karrierebeginn an den Nagel gehängt. Anschliessend hat er gemeinsam mit seinem Bruder Morris Etter die Non-Profit-Organisation «Wasser für Wasser» gegründet. Die NGO konzentriert sich auf die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser in Mosambik, Sambia und der Schweiz.
Für das Interview, in dem wir Fragen stellen, die sonst nur Frauen gestellt werden, empfängt uns Lior Etter in seinem Büro unweit vom Luzerner Bahnhof. Lässig sitzt er im Schneidersitz auf einem Sofa und beantwortet unsere Fragen.
Du hast dein Leben als Profi-Fussballspieler mit 20 hinter dir gelassen, weil es dir zu oberflächlich war, wie du in einem Interview sagtest. Bist du ein «Gschpürsch-mi-fühlsch-mi»-Typ?
Ja, das könnte man so sagen. Ich entscheide viele Dinge aus dem Bauch raus.
Wie kam deine zarte Männerseele klar mit dem Druck und der Konkurrenz im Spitzensport?
(Lacht.) Es war tatsächlich nicht einfach für mich. Ich war ein Spielertyp, ich habe das Fussballspielen geliebt. Das ist auch heute noch so. Wenn ein Ball an mir vorbeirollt, dann geht mein Blick hinterher. Das Kompetitive allerdings habe ich immer schon in Frage gestellt. Als Fussballspieler:in muss man eine gewisse Aggression aufbauen und Körperkontakt suchen. Mir war das oft zu viel. Ich war Mittelfeldspieler, das bedeutet, dass man zum Beispiel häufig lange Bälle mit dem Kopf angehen muss. Das habe ich gehasst, auch als Profi noch. Ich bin kein «härte Siech».
Bist du also kein typisches Alpha-Männli?
(Lacht.) Da müsstest du vielleicht eher meinen Bruder Morris fragen, wir arbeiten ja eng zusammen. Ich bin sehr meinungsstark, was ich teilweise als fördernd, teilweise als weniger fördernd wahrnehme. Momoll, ich gehe schon voraus, einfach mit eigenen Werten. Das versuche ich zumindest.
Die Idee für deine Non-Profit-Organisation «Wasser für Wasser» (WfW) kam dir und deinem Bruder Morris am Strand von Goa. Schon ein ziemliches Klischee, oder?
(Lacht.) Stimmt schon. Aber: Ich war in Goa, weil unser dritter Bruder, Basil, nach langer Krankheit verstorben ist. Das löst dieses Klischee meiner Meinung nach auf. Ich habe zwar keine Angst vor Klischees, ich mache mittlerweile auch Yoga und meditiere. Doch als Morris und ich in Goa waren, sind wir den Spuren unseres Bruders gefolgt. Dass seine Spuren uns nach Indien zum Strand von Goa geleitet haben, hatte nichts mit einem äusseren klischierten Bild zu tun. Unsere Zeit in Indien war eine tiefe Auseinandersetzung damit, was wir aus dem Leben, das uns noch bleibt, machen wollen.
Dass ein Mann ein Unternehmen gründet, kommt nicht so häufig vor. Wirst du als männlicher Gründer überhaupt ernst genommen?
(Lacht.) Ou, jetzt aber. Morris und ich haben ein gespaltenes Verhältnis zu unserem Urgrossvater. Wir teilen seine politische Haltung nur bedingt, auch wenn man diese natürlich im Zeitgeist verstehen muss (Philipp Etter politisierte für die CVP, heute die Mitte, und war 25 Jahre lang Bundesrat, Anm. der Red.). Darum hängen wird das auch nicht an die grosse Glocke. Es ist aber tatsächlich so, dass wir unsere Verwandtschaft zu Philipp Etter manchmal bewusst bekannt machen, um gerade bei älteren Semestern oder konservativeren Unternehmen Glaubwürdigkeit zu erlangen. Genauso wie ich je nach Situation auch davon Gebrauch mache, dass ich früher Fussballprofi war. Beides bringt eine vermeintliche Wichtigkeit in ein Gespräch. Ich denke aber nicht, dass die Tatsache, dass mein Urgrossvater Bundesrat war, die entscheidende Unterstützung für «Wasser für Wasser» war.
Bei einem Non-Profit-Unternehmen ist der Lohn bescheidener als in der Privatwirtschaft. Du musst eine sehr grosszügige Partnerin haben, die dich dabei unterstützt, dich beruflich zu verwirklichen.
Das ist definitiv so. Ohne meine Frau, Tabea, hätte ich das nicht geschafft. Sie hat mich finanziell mitgetragen, als ich ehrenamtlich «Wasser für Wasser» aufgebaut habe. Ich habe bei ihr gewohnt und musste keine Miete zahlen.
Leistest du mit deiner Selbstverwirklichung tatsächlich einen substanziellen Beitrag an die Familien-Finanzen?
Mittlerweile zum Glück schon. Seit zwölf Jahren baue ich «Wasser für Wasser» mit meinem Bruder zusammen auf. Am Anfang waren die Familienfinanzen wirklich nicht gleich verteilt. Das hat mich aber auch nicht gestört, es hat mein Ego nicht angekratzt. Momentan verdiene ich mehr als meine Frau, aber vielleicht kommt irgendwann wieder eine Zeit, in der ich weniger verdiene.
Apropos Familie: Du bist Vater. Wie bringt ein wahrer Power-Mann wie du Familie und Beruf unter einen Hut?
Meine Frau und ich haben zwei gemeinsame Kinder. Meine Frau sagt immer, dass ich eigentlich drei habe. Und ich denke, das stimmt. «Wasser für Wasser» kommt manchmal in Konkurrenz mit anderen Familienbedürfnissen. Ich habe sehr viel Zeit in diese Organisation investiert, und meine Frau hat dadurch mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufgewendet als ich. Da hat sie mir schon auch mal vorgeworfen, dass ich immer sage, ich sei doch so ein progressiver Mann. Dass dies ja aber gar nicht stimme. Sie arbeitet in einem tieferen Pensum als ich, in diesem Sinn haben wir eine «klassische» Aufteilung. Alles unter einen Hut zu bringen, ist eine enorme Herausforderung. Eine spannende auch. Die eine Welt stellt die andere konstant in Frage. Ich habe gerade das Gefühl, dass ich hier ein wichtiges Interview gebe. Wenn ich dann aber nach Hause komme und meine Kinder sehe, dann stellt das die Wichtigkeit von dem, was ich gerade mache, komplett in Frage. Dieser Switch ist für mich manchmal herausfordernd, bringt aber auch einen wohltuenden Perspektivenwechsel.
Du gehörst also auch zu diesen faulen Teilzeitlern!
Ich denke, Faulheit ist nicht das, was man mir vorwerfen kann. Vielleicht höchstens, dass ich manchmal Schwierigkeiten habe, herunterzukommen.
Sollte ein Vater seine Kinder nicht rund um die Uhr betreuen?
Das ist eine gute Frage. Ich habe mich auch schon gefragt, ob ich Vollzeitpapa sein könnte. In meinem Leben hat es sich einfach nicht so ergeben, das ist vielleicht eine billige Antwort. Ich habe aber auch nicht das Gefühl, dass Vollzeitmama das Ideal ist. Ich denke, dass die Lebensformen, die viele junge Eltern in unseren Breitengraden heute leben, also beide arbeiten und beide erziehen die Kinder, es für niemanden per se einfacher gemacht hat. Mit all den vermeintlichen Möglichkeiten, die dieses Jahrhundert bietet, entstehen auch mehr Begehrlichkeiten. Und mehr potenzielle Spannungen, weil man nicht alles machen kann.
Sinnstiftende Arbeit wie Entwicklungszusammenarbeit ist ein klassisches Männerthema. Macht es dich traurig, dass sich Frauen nicht dafür interessieren?
(Lacht.) Ist das nicht genau umgekehrt? Ich finde es grundsätzlich schade, wenn das Thema des sozialen Ausgleichs jemanden nicht interessiert. Ich muss zugeben, die ersten Frauen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, waren Praktikantinnen. Wir waren lange Zeit ein Bro-Club, mein Bruder, ich und Freunde von uns. Mit der Entwicklung der Organisation war klar, dass wir mehr Vielfalt brauchten, mehr Frauen. International haben wir neben Morris und mir inzwischen sechs Manager:innen, drei davon sind Frauen. Das war aber nur bedingt ein bewusster Entscheid, es sind einfach tolle Frauen zur Organisation hinzugestossen, ich will uns an dieser Stelle nicht selbst zu fest beweihräuchern. Grundsätzlich fällt uns auf, dass viele Strukturen in der klassischen Entwicklungszusammenarbeit nach wie vor sehr paternalistisch und neokolonialistisch aufgebaut sind.
Wie gehst du mit der Ungerechtigkeit um, dass Frauen weltweit an den Schalthebeln der Macht sitzen und Männer die Folgen zu spüren bekommen?
Die ungleiche Machtverteilung macht mich definitiv wütend. Weiter glaube ich, wir müssen auch die Strukturen stark hinterfragen, die zu problematischen Entscheidungen führen – unabhängig davon, wer und mit welchem Gender am Ende an diesen Hebeln sitzt.
Trotzdem finde ich es auffallend und traurig, dass nach wie vor so viele Cis-Männer jeden Tag so viel – pardon für das Wort – Scheiss entscheiden.
Bei deiner Arbeit wirst du mit grossem Leid konfrontiert. Wie oft fliessen bei dir als emotionaler Mann die Tränen bei der Arbeit?
Das finde ich eine spannende Frage. Leider nie. Ich habe etwas verlernt zu weinen. Ich nehme meine Emotionen stark wahr, Weinen ist aber nicht meine Art von emotionalem Loslassen. Ich sehe bei meinen Kindern, wie unmittelbar der emotionale Ausdruck des Weinens ist. Sie weinen mehrmals pro Tag, davon bin ich weit entfernt. Ich denke, dass der rationale Verstand grundsätzlich viel zu stark gewichtet wird; die Rolle der emotionalen, intuitiven Intelligenz wird dabei enorm unterschätzt. Für meine Tätigkeit bei «Wasser für Wasser» braucht es aber viel davon. Und das braucht’s aus meiner Sicht besonders auch für das Vatersein.
Wie hat dein Aussehen deine Karriere beeinflusst? Deine schönen Augen haben dir sicher einige Türen geöffnet.
(Lacht.) Der ist gut. Das müssen andere beurteilen, ob meine Augen schön sind. Ich bin mir sicher, dass die Präsenz, die Morris und ich als Brüderpaar mit unserer Geschichte haben, eine gewisse Wirkung hat. Da gehört auch das Auftreten dazu. Anders als vielleicht noch vor 15 Jahren versuche ich mich nicht mehr über mein Äusseres zu definieren.
Du bist mit deiner Organisation immer wieder mal in den Medien. Stört es dich, dass dein Äusseres oft wichtiger ist als deine Leistung?
(Lacht.) Es ist lustig, aus welchem Grund man zu einer medialen Person wird. Ich habe mal in einem Interview gesagt, dass ein lebenswertes Leben nicht schlagzeilentauglich sein muss. Auf diese Schlagzeile bin ich besonders stolz. Ich gehe davon aus, dass es über meine Frau wahrscheinlich nie einen Zeitungsartikel geben wird, und sie ist eine der grossartigsten Personen, die ich kennen lernen durfte. Warum sollte ich dann das Gefühl haben, dass mein Weg wichtiger ist? Ich hatte früh in meinem Leben mediale Aufmerksamkeit und konnte deshalb schon früh darüber reflektieren. Das Äussere und die Leistungen sind nicht das Wichtige, sondern die Art und Weise, wie man Sachen macht. Ob ich Haltung zeige und wie ich Dinge angehe, dafür möchte ich Verantwortung übernehmen, und dafür möchte ich idealerweise wahrgenommen werden.
Zum Schluss noch das Lieblingsthema der Männer: Styling und Beauty. Verrätst du uns dein Beautygeheimnis?
(Lacht.) Mein Bruder müsste hier sitzen, der hat extrem gute Beauty-Tipps. Er hat auf den gemeinsamen Reisen jeweils mehrere Necessaires dabei, hat für jeden Fall ein Spezialdösli. Echt beeindruckend. Trotzdem noch mein Beauty-Tipp: Wenn du nicht duschen kannst, trage einen Hut.
Trägst du heute deshalb einen Hut?
Unter anderem, genau.
Vielen Dank für das Gespräch, Lior. War’s so schlimm, wie du es dir vorgestellt hast?
(Schüttelt den Kopf.) Überhaupt nicht schlimm war’s.