Macht und Misogynie, Geld und Gier, Patriarchat und Privilegien: Wer die Antwort nicht scheut, darf unseren Kolumnisten alles fragen. Markus Theunert teilt, was er in 25 Jahren Beschäftigung mit Männern und Männlichkeit gelernt hat.  

Heute mit der Frage von Anna (39): Warum werden die beruflichen Leistungen von Frauen kritischer bewertet als die von Männern?

Liebe Anna

76 Prozent weiblicher High-Performerinnen werden für ihre Arbeit kritisiert. Nur 2 Prozent ihrer männlichen Kollegen berichten dasselbe. Das zumindest ist das Ergebnis einer Umfrage der Software-Firma Textio. Natürlich muss man bei solchen Befragungen vorsichtig sein, weil ihre Aussagekraft durch Stichprobengrösse und Datenqualität verzerrt sein kann. 

Die Tendenz dürfte aber auf jeden Fall stimmen.

Es ist wahrlich keine neue Erkenntnis, dass für Frauen und Männer andere Massstäbe gelten. Das betrifft nicht nur ihre Leistung, sondern auch ihr Verhalten. Was Männern als «durchsetzungsstark» ausgelegt wird, gilt bei Frauen schnell als «rücksichtslos». Wo Männer ein Kompliment für ihre Authentizität einheimsen, stehen Frauen als gefühlsduselig in der Kritik. 

«Gender Bias» heisst dieser Verzerrungseffekt, der sich kognitionspsychologisch leicht erklären, aber in der Realität nur mühselig ändern lässt. Was ist damit gemeint?

Markus Theunert
Statt eines Lebewesens mit zwei Beinen, Armen und langen Haaren sehen wir eine «Frau».

Das menschliche Denken ist auf die Reduktion von Komplexität angewiesen, um funktionstüchtig zu sein. Deshalb verarbeiten wir Informationen in Kategorien: Statt vier Holzpflöcken mit Platte obendrauf sehen wir einen «Tisch». Statt eines Lebewesens mit zwei Beinen, Armen und langen Haaren sehen wir eine «Frau».

Das geschieht noch bevor die bewusste Wahrnehmung eingesetzt hat – und ist entsprechend effizient, aber leider auch völlig unpräzis. Zeitgleich mit der Zuordnung zu einer dieser Kategorien aktivieren wir vermeintliches Erfahrungs-«Wissen» und lassen uns davon in unserem Verhalten steuern. 

Deshalb gelingt es auch bei grösster Anstrengung nicht, einer anderen Person völlig unvoreingenommen zu begegnen. Vielmehr generieren wir laufend Hypothesen, die sich durch unsere biografischen Erfahrungen und kulturellen Stereotypen speisen. Weil wir nach wie vor im Patriarchat leben, sind diese Annahmen von patriarchalen Prägungen durchdrungen. 

Patriarchales Denken ist erstens: androzentrisch. Es setzt den Mann als Norm und Nullpunkt. Weibliche Perspektiven sind von dieser Position aus keine gleichwertigen Alternativen, sondern «Abweichungen». Patriarchales Denken ist zweitens: binär. Es setzt und verteidigt eine Geschlechterordnung, welche alle Menschen zwingt, entweder Frau oder Mann zu sein. Und es füllt diese vermeintlich naturgegebene Zweigeschlechtlichkeit mit ganz vielen Inhalten, die dort eigentlich nicht hingehören.

Männer sind dem Kämpfen und Frauen dem Kümmern verpflichtet, lautet so ein Glaubenssatz. Oder: Männer suchen den Konflikt, Frauen den harmonischen Ausgleich. Oder: Männer folgen ihrem Verstand, Frauen ihrem Gefühl. 

Das ist natürlich alles grosser Unfug. (Männer sind von der Natur her mit den gleichen Bindungsfertigkeiten ausgestattet, sind in gleicher Weise kooperationsfähig und haben exakt dieselben Gefühle, auch wenn sie die aufgrund ihrer kulturellen Prägung vielleicht weniger ausgeprägt wahrnehmen und ausdrücken.)

Trotzdem sind diese Annahmen wirkmächtig. Sie beeinflussen, mit welcher Brille wir in die Welt blicken und wie wir andere Menschen bewerten. Die tüchtige Karrierefrau wird so zum Opfer des «androzentrischen Unbewussten» (Pierre Bourdieu): Ihre Leistung wird nicht «objektiv» eingeschätzt. Vielmehr ist die Leistungsbewertung immer auch durchdrungen von gesellschaftlichen Stereotypen – und damit auch von (unhaltbaren) Annahmen über die vermeintlich geringere Leistungsfähigkeit von Frauen.

Markus Theunert
Es braucht ein kollektives Umlernen – ein «Überschreiben» patriarchaler Skripts.

Genau deshalb reichen Fairness-Appelle nicht, um tatsächliche Gleichstellung zu verwirklichen. Es braucht ein kollektives Umlernen – ein «Überschreiben» patriarchaler Skripts.

Das aber ist nicht einfach ein Männerproblem, denn alle Menschen haben diese Skripts verinnerlicht, wenn sie in einer patriarchalen Kultur aufwachsen. Deshalb sind wir in der Gleichstellungsarbeit gut beraten, ein fehlerfreundliches Klima zu schaffen, das uns allen erlaubt, diese alten Prägungen wohlwollend kritisch zu dekonstruieren, wann immer sie uns einholen. 

Hier wird auch für Männer der Nutzen von Gleichstellung und Emanzipation unmittelbar spürbar. Denn die Vorstellung, dass Männer von Natur aus toughe Performer sind, ist genauso widerlegt und falsch wie die Vorstellung, dass Frauen das von Natur aus nicht sind.  

Diese Kolumne verfolgt – auf Einladung der ellexx Redaktion – das Anliegen, einen patriarchatskritischen Blick auf Geschlechter-, Geld- und Gesellschaftsfragen beizusteuern. Unserem Kolumnisten ist es wichtig, seine Unsicherheit transparent zu machen, wo die Bereicherung durch eine reflektierte Männerperspektive aufhört – und wo das «Mansplaining für Fortgeschrittene» beginnt.

Markus Theunert ist Gesamtleiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Kontakt: theunert@maenner.ch.