Wir sollen mehr lesen, heisst es. Woran Schulen, Eltern und Politik häufig scheitern, das gelingt nun einer globalen TikTok-Community: Junge Menschen zum Lesen zu motivieren. Die Kurzvideos unter #BookTok krempeln weltweit die Literaturbranche um. Ohne die Kritik an TikTok beiseite schieben zu wollen, ist #BookTok ein Beispiel dafür, wie Social Media Positives bewirken können.

Ich bin überzeugt: Wir brauchen #BookTok. Wir brauchen diese Online-Community, die dem Lesen ein neues Image verschafft, bisher ungehörten Stimmen ein Sprachrohr bietet und an den Normen des Literaturbetriebs rüttelt.

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Kurz erklärt
Der Begriff «BookTok» setzt sich zusammen aus «Book» und «TikTok». Auf der Kurzvideoplattform TikTok dreht sich in einer Subcommunity alles um Bücher. Die Nutzer:innen diskutieren Werke, reagieren auf Textstellen und präsentieren die ideale Ästhetik des Bücherregals. Bei #BookTok geht es um mehr als ums Lesen – es geht um Emotionen und um Individualität. #BookTok ist ein Lifestyle.

Was ist so neu daran? Bereits vor #BookTok wurden Bücher auf Social Media besprochen. Es handelte sich dabei bisher stets um eine Nische ohne tatsächlichen Einfluss auf die Literaturbranche.

Das ist bei #BookTok anders: Seit Anfang 2020 wurden vermehrt Videos unter eben diesem Hashtag gepostet. Während der Pandemie verbrachten viele junge Menschen – ich inklusive – mehr Zeit in den sozialen Medien. Das echte Leben stand still, und wir suchten Zuflucht in Bücherwelten. Die «BookTok»-Community wuchs innert kürzester Zeit.

Die Zahlen sprechen für sich: 44 Millionen Beiträge wurden Stand heute unter #BookTok veröffentlicht. Zählt man ähnliche Hashtags dazu, sind es 60 Milliarden Videos bis Ende 2023. Die Videos unter #BookTok wurden bis vor einem Jahr insgesamt 215 Milliarden Mal angeschaut. Das ist, als würde jede Person auf der Welt 27 mal ein «BookTok»-Video anschauen.

Die Beiträge werden überwiegend von jungen Frauen produziert und konsumiert. Dabei kann man beobachten, was bei von Frauen geprägten Bereichen und Projekten häufig geschieht: Sie werden so lange unterschätzt, bis sie lukrativ sind.

Amélie Galladé
In den USA ist #BookTok ein wesentlicher Treiber, dass mehr gedruckte Bücher verkauft werden.

Wirtschaftsfaktor #BookTok: Es ist schwer messbar, wie viele Buchkäufe aufgrund von TikTok getätigt wurden. Und doch gibt es Zahlen: In Deutschland wurden 2023 über 12 Millionen «BookTok»-Bücher verkauft, also Werke, die in der Community häufig empfohlen werden. Der Absatz hat sich in einem Jahr mehr als verdoppelt. In den USA ist #BookTok ein wesentlicher Treiber, dass mehr gedruckte Bücher verkauft werden. Selbst wenn sich der Zusammenhang zwischen #BookTok und Buchverkäufen in der Schweiz noch nicht mit Zahlen belegen lässt, werden virale Bücher häufig zum Kassenschlager. 

Das TikTok-Phänomen hat sich in der Literaturbranche etabliert.

#BookTok ist eine Form von Widerstand gegen den traditionellen, patriarchal geprägten Literaturbetrieb. Viele der typischen «BookTok»-Bücher fallen in die Genres Liebesromane, Fantasy sowie New Adult.

Lange wurden diese Stimmen und Werke abgewertet, sodass sie abseits der grossen Bühnen der Literaturbranche stattgefunden haben. Was bewirkt #BookTok also? Es rückt bisher unterdrückte Stimmen und Geschichten auf die Podestplätze der Bestsellerlisten und mitten in die literarische Diskussion. Übrigens: Es gehören auch Klassiker, Biografien und Sachbücher zum Repertoire von #BookTok, wie etwa Kafkas «Verwandlung», Austens «Stolz und Vorurteil», Dostojewskis «Weisse Nächte» und Brontës «Jane Eyre».

Doch kein Erfolg ohne Kritik: Einige der beliebtesten «BookTok»-Bücher werden heftig kritisiert, so beispielsweise die Bestseller von Colleen Hoover. Ich selbst konnte ihren Erfolgsroman «It Ends With Us» nicht fertig lesen, weil mich Hoovers Umgang mit sensiblen Themen störte. Häusliche Gewalt wird verharmlost und eine ungesunde Beziehung romantisiert. 

Das bringt mich zu meiner persönlichen Kritik am Trend: Ich habe den Eindruck, dass manche «BookTok»-Videos zu stark auf den Konsum und aufs Besitzen von Werken fokussieren. Es geht darum, wie ein Buch aussieht, welchen Farbschnitt es hat und wie es in Szene gesetzt wird. Das gleiche Buch zweimal kaufen – einmal zum Lesen, Markieren und Zerfleddern und einmal zur makellosen Präsentation im möglichst grossen Bücherregal. Hauptsache, man hat mehr Werke gelesen als andere – Bücher als kurzlebiges Konsumgut. Die Buchhandlungen profitieren, aber was nützt es fürs Lesen, und was ist der Sinn dahinter?

Deckenhohe Bücherregale gelten als Statussymbol, als Zeichen von Bildung und Wohlstand, das lange einer kleinen Elite vorbehalten war. Zum Lesen braucht es einen Zugang zur Literatur, Sprachkenntnisse und freie Zeit. Ohne Bibliotheken und Büchertausche ist exzessives Lesen ein kostspieliges Hobby. Lesen muss man sich leisten können. 

Amélie Galladé
Es gibt den «BookTok»-Effekt tatsächlich. Ich stelle ihn bei mir selbst und in meinem Umfeld fest.

Ich mag die Bewegung, denn #BookTok macht Lesen populär. Jede und jeder kann teilnehmen und zur Diskussion beitragen, ohne besondere Qualifikationen aufweisen zu müssen. Zu Kafka, Shakespeare und den Brontë-Schwestern erhält man dank TikTok-Content niederschwelligen Zugang. Das Leseverhalten der Community entscheidet darüber, welche Werke auf den Bestsellerlisten landen. #BookTok trägt zur Demokratisierung von Literatur bei.

Lesen junge Menschen dank Kurzvideos tatsächlich mehr? In einer Umfrage geben 59 Prozent der 16- bis 25-Jährigen an, dass #BookTok sie zum Lesen animiert. Es gibt den «BookTok»-Effekt tatsächlich. Ich stelle ihn bei mir selbst und in meinem Umfeld fest. Zahlen belegen: 38 Prozent der jungen Menschen orientieren sich eher an den Empfehlungen auf #BookTok als an den Buchtipps von Familie und Freunden. Für Buchempfehlungen wende ich mich an «BookTok»-Influencerinnen mit ähnlichen Interessen. Durch den ausgefeilten Algorithmus, der Daten analysiert und ähnliche Inhalte vorschlägt, sind die empfohlenen Werke meist ein Volltreffer.

Mein Fazit: Persönlich verfolgte ich #BookTok lange nur am Rande und hielt es für ein kleines Bubble-Phänomen. Das war eine Fehleinschätzung. Ich habe die Grösse und die Tragweite der Community sowie die Aspekte Wirtschaft, Feminismus und Demokratisierung unterschätzt. #BookTok ist Bildung, Safe Space und Widerstand sowie Konsum, Konkurrenz und Kontroverse zugleich.

Ich habe schon immer für mein Leben gern gelesen. Früher wurde ich dafür als Nerd abgestempelt, heute gilt es als spannend und cool. #BookTok hat dazu beigetragen. Ich hoffe, dass wir diese Haltung beibehalten und weitertragen.

Egal, ob Romanze, Klassiker oder Sachbuch: Lesen ist Wissen. Und Wissen ist Macht.