Letzte Woche sorgte eine Kolumne bei ellexx für angeregte Diskussionen auf Instagram: «Ungeschminkt»-Kolumnist Markus Theunert, der bei uns einen patriarchatskritischen Blick auf Geschlechter-, Geld- und Gesellschaftsfragen wirft, beantwortete wie immer die Frage einer Leserin. Sie wollte von ihm wissen, weshalb Männer zu Sexarbeiterinnen gehen. Und damit sind wir schon mitten im Diskurs: Auf Instagram zeigten sich mehrere Userinnen empört darüber, dass wir den Ausdruck «Sexarbeit» verwenden. Schliesslich handle es sich hier um eine Welt, in der Missbrauch und Menschenhandel weit verbreitet seien – mit Arbeit habe dies nichts zu tun. Diese Kommentare sorgten auch bei uns auf der Redaktion für Gesprächsstoff.
Ich befasse mich als Journalistin bereits seit mehreren Jahren mit der Thematik, habe an einem Buch über Sexarbeit mitgeschrieben und mich mit vielen verschiedenen Frauen aus der Branche unterhalten, von der Domina mit eigenem Studio über die junge Studentin, die als Nebenjob Escort-Services anbietet, bis hin zur knapp Volljährigen auf dem Strassenstrich. Sie alle verbindet, dass sie ihr Geld in einem Bereich verdienen, in dem der weibliche Körper als Kapital gilt. Sie alle entzweit aber die Frage nach der Freiwilligkeit.
Die Studentin, die sich ihre Kunden aussuchen kann, konnte sich tendenziell bewusst für diese Tätigkeit entscheiden. Sie ist ein ganz anderer Fall als die Frau, die, kurz nachdem sie ihr dreimonatiges Visum für die Schweiz abholte, von ihrem Zuhälter auf den Strassenstrich geschickt wurde. Sie kann sich nicht aussuchen, wen sie mitnimmt. Wenn dir dein Pass von einem Fremden weggenommen wird und du deinen Lebensunterhalt, die wöchentliche Miete für dein Zimmer und eine «Provision» für den Kerl verdienen musst, der dich zu deiner Tätigkeit zwingt, in einem Land, in dem du die Sprache nicht sprichst, dann kann man sicher nicht von Freiwilligkeit sprechen. Man kann dann aus meiner Sicht auch nicht von Arbeit sprechen – sondern tatsächlich von Ausbeutung und Menschenhandel. Deshalb passt für diese Fälle nur der Ausdruck «Prostitution». Damit bin ich übrigens nicht alleine: Unter anderem macht auch die deutsche Publizistin und Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp, die viel zur Thematik publiziert, diese Unterscheidung. Der Begriff «Sexarbeit», beziehungsweise «sex work», wurde übrigens 1978 von der US-amerikanischen feministischen Filmemacherin Carol Leigh eingeführt.
Sprache ist mir wichtig, ethische und moralische Ansprüche selbstverständlich auch. Aber auch ich merke, wie ich immer wieder hadere: Einerseits bin ich der Meinung, dass Menschen, die sexuelle Leistungen gegen Geld anbieten, so gut wie möglich geschützt werden müssen. Es ist deshalb nur richtig, dass sie sich als Selbstständige anmelden und sich versichern können. Je mehr rechtliche Absicherung, desto geringer die Gefahr, in die gefährliche Illegalität abzurutschen. Zumindest in der Theorie. In der Realität aber ist die glamouröse «Pretty Woman» eher die Ausnahme: Man geht etwa davon aus, dass zwei Drittel aller Betroffenen von Menschenhandel in der Prostitution ausgebeutet werden.
In einer patriarchalen Welt entscheidet, wer mehr Geld hat. Das sind auch heute noch meistens Männer. Was bedeutet es für unsere Vorstellung von Moral, wenn der Körper einer Frau mit einem Preisschild versehen wird? Und sprechen wir wirklich noch von Sex, wenn er aus wirtschaftlicher Abhängigkeit stattfindet? Kurzer Reality Check: Während eine selbstständige Domina je nach Session mehrere tausend Franken verlangen kann, hat die Frau auf dem Strassenstrich kaum Verhandlungsspielraum. Hier gilt: Wer den niedrigsten Preis anbietet, gewinnt den Kunden. Und hier sprechen wir je nachdem von «Preisen» im niedrigen zweistelligen Bereich.
Ich finde, dass Markus Theunert in seiner Kolumne einen wichtigen Punkt herausgearbeitet hat: Viele Männer haben nie gelernt, Bedürfnisse richtig zu spüren. Sie wurden so sozialisiert, dass Sex eines der wenigen Bedürfnisse eines Mannes sein darf – es kann aber gut sein, dass er eigentlich etwas anderes braucht. Dies bestätigen auch die vielen Geschichten, die mir Sexarbeiterinnen immer wieder erzählen: «Viele Männer wollen vor allem reden!»
Allerdings hörte ich diese Aussage vor allem von Frauen, die unabhängig arbeiten, zum Beispiel in ihrem eigenen Studio. Auch hier zeigt sich also die scharfe Trennung innerhalb des Milieus; viele Frauen, die auf dem Strassenstrich arbeiten, erzählen wiederum von Männern, die sie schlagen oder gar vergewaltigen. Keine einzige dieser Frauen sagte mir, dass sie ihre Arbeit gerne mache. Im Gegenteil, um eine frühere Interviewpartnerin zu zitieren: «Ich glaube nicht, dass ich je wieder normal Sex haben kann.» Wobei auch hier sprachliche Unterscheidung wichtig ist: Das, was diese Frauen erleben, hat im Prinzip nichts mit Sex zu tun. Denn Sex basiert auf gegenseitigem Einverständnis, das aus freien Stücken gegeben wird – und nicht, weil man vom Geld, das man damit verdient, abhängig ist.
Dem gegenüber steht eine der eingangs erwähnten Studentinnen, die mir erzählte: «Seit ich als Escort arbeite, habe ich so viel über meine eigene Sexualität gelernt, konnte mich ausleben und erst noch Geld damit verdienen.» Für Frauen, die das Gegenteil erlebten, sind solche Aussagen ein Hohn. Und doch existieren beide Wahrheiten in derselben Welt.
Und genau deshalb ist es wichtig, sprachliche Unterscheidungen zu machen: Prostitution kann Frauen zerstören, Sexarbeit kann sie bestärken. Was denkt ihr, liebe Leser:innen?