Wenn ich Betroffene von sexualisierter Gewalt frage, was sie sich vom Täter am meisten wünschen würden, dann wird entgegen des Klischees eine harte Bestrafung oft nicht an erster Stelle genannt. Vielmehr wünschen sie sich, dass der Täter Verantwortung für seine Tat und für das verursachte Leid übernimmt. Und dass er sein Verhalten ändert und keiner Frau mehr Schaden zufügt.
Dank der längst überfälligen Reform des Sexualstrafrechts soll die Arbeit mit verurteilten Tatpersonen gesetzlich verankert werden. Das ist sehr gut. Nun wissen wir aber auch, dass nur gerade mal jede zehnte Betroffene von sexualisierter Gewalt Anzeige erstattet. Das Strafrecht wird also nie ausreichen, um die Gesellschaft zu verändern, hin zu mehr Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit.
Echte Gerechtigkeit bedeutet, Verantwortung zu übernehmen
Wie können wir das Ausmass sexualisierter Gewalt auf struktureller Ebene also angehen und reduzieren? Wie sieht echte Gerechtigkeit für Betroffene aus, auch für diejenigen, die sich gegen eine Strafverfolgung entscheiden? Wie bringen wir Männer dazu, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen und ihr Verhalten zu ändern?
Die Antwort: Wir müssen uns intensiver damit auseinandersetzen, wie eine Rehabilitation von Tätern möglich sein kann. Eine echte Rehabilitation kann nämlich nur erfolgen, wenn übergriffige Männer freiwillig und aus eigener Überzeugung Verantwortung übernehmen und bereit sind, ihr Verhalten zu ändern. Nicht aus Angst um die berufliche Karriere oder vor sozialer Stigmatisierung, sondern weil sie nicht mehr Teil einer sexistischen und misogynen Gesellschaft sein wollen. Echte Rehabilitation kann nur erfolgen, wenn wir endlich wegkommen von der patriarchalen Prämisse «boys will be boys» (oder auf Deutsch: «Solche Typen ändern sich nie!»). Damit zementieren wir den Mythos, dass männliches Verhalten unveränderbar sei. Das mag für psychopathisch veranlagte Männer oder für Männer mit schweren psychischen Störungen zutreffen. Aber die allermeisten sexuell Übergriffigen gehören nicht in diese Kategorie. Menschen können sich ändern, Männer können sich ändern.
Wir müssen sexuell übergriffige Männer endlich in die Verantwortung nehmen. Und Möglichkeiten schaffen, damit diese Männer sagen können: «Ja, ich war übergriffig» und auf das Privileg verzichten, nicht für ihre Taten geradestehen zu müssen.
Sexualisierte Gewalt ist ein strukturelles Problem
Vielleicht verwirfst du jetzt die Hände und findest, dass ich keine Ahnung davon habe, welcher Schmach ein übergriffiger Mann ausgesetzt wäre, wenn er seine Taten zugeben würde. Vielleicht denkst du, dass niemand je wieder mit einem solchen Mann zusammenleben oder ihm einen Job geben würde. Darüber muss ich schmunzeln. Einerseits wissen wir, dass sowohl die Karrieren als auch der soziale Status von übergriffigen Männern in den meisten Fällen sehr intakt bleiben. Dies sogar, wenn die Männer angezeigt und verurteilt wurden. Aktuellstes Beispiel ist ein Berner Professor, der jahrelang Studentinnen ohne ihr Wissen nackt in der Dusche filmte, dafür vor Kurzem verurteilt wurde und trotzdem nach wie vor im Amt ist. Andererseits: Wären wir Frauen nicht bereit, uns mit Männern zu umgeben, von denen wir wissen, dass sie auch schon mal grenzverletzend waren, dann wären wir nur noch in Frauen-Clans unterwegs.
Sexualisierte Gewalt an Frauen ist ein strukturelles Problem. Sie ist nicht nur das Vergehen einzelner Männer, sondern das einer Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost, entschuldigt oder gar ignoriert. Eine Gesellschaft, die Betroffene oft abwertet, während sie Täter nicht zur Verantwortung zieht.
Wie viele Täter kennen wir?
Soll man nun Verständnis für sexuell übergriffige Männer haben, weil sie auch nur Opfer von patriarchalen Haltungen sind? Nein. Aber wir müssen der Realität ins Auge schauen: Wenn davon auszugehen ist, dass hochgerechnet 2.3 Millionen Frauen in der Schweiz schon sexuell belästigt wurden, 800'000 Frauen sexuell genötigt und 430'000 vergewaltigt wurden, dann müssen wir auch davon ausgehen, dass sehr viele übergriffige, gewalttätige Männer unter uns leben. Wir leben also ohnehin mit diesen Männern, seien es unsere Freunde, Väter, Brüder oder unsere Arbeitskollegen. Das Schweigen ist allerdings ohrenbetäubend, und es muss gebrochen werden. Das Schweigen der Übergriffigen, wie auch das Schweigen derjenigen, die Bescheid wissen, verhindert nämlich nicht zuletzt diesen Lernprozess, der gerade für jüngere Männer so wichtig wäre.
Und was machen die Betroffenen, wenn die Täter anfangen, Verantwortung zu übernehmen? Da gibt es kein Richtig oder Falsch. Und schon gar nicht darf es die Erwartung geben, dass eine Betroffene Mitgefühl mit dem Täter entwickelt, geschweige denn ihm vergibt. Vielleicht wird die Betroffene niemals verzeihen können oder wollen, das ist vollkommen in Ordnung und sollte nicht die Motivation des Täters sein, sich mit seinem Verhalten auseinanderzusetzen. Motivation muss die eigene Heilung sein, der eigene Lernprozess sein und der Wille zur Wiedergutmachung.
Diese Wiedergutmachung muss nicht nur auf individueller Ebene erfolgen, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene: Männer müssen zu Verbündeten werden im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Steht ein Männerabend an? Diskutiert doch mal darüber, wer von euch schon mal eine sexuelle Grenze überschritten hat. Wer von euch schon mal ignoriert hat, dass das Gegenüber nicht (wirklich) eingewilligt hat? Wer von euch schon mal ein Nein übergangen hat? Wie hat es sich angefühlt? Habt ihr danach noch darüber nachgedacht? Habt ihr verdrängt? Hattet ihr ein schlechtes Gewissen? Habt ihr euch schuldig gefühlt? Verantwortlich? Habt ihr auch ihr eine Mitschuld gegeben? Habt ihr mit jemandem darüber gesprochen? Habt ihr je mit der Frau darüber gesprochen? Denkt ihr, für die Frau hat euer Verhalten Folgen gehabt? Hat es für euch Folgen gehabt? Habt ihr je befürchtet, dafür angezeigt zu werden? Habt ihr es je als Vergewaltigung, sexuelle Nötigung oder Belästigung angeschaut? Und diskutiert, was es braucht, damit es der jungen Generation Männer anders ergeht als euch. Männliches Verhalten ist nicht unveränderbar, auch wenn das Patriarchat uns dies seit Jahrzehnten einzureden versucht.