Ein Mann sorgte seit dem vierten Lebensjahr für seine Stieftochter, sie nannte ihn seit jeher «Papi». Als sie 19 Jahre alt war, legte er sich zu ihr ins Bett und verging sich an ihr. Aus Angst wehrte sie sich nicht, sondern stellte sich schlafend und drehte sich mehrmals weg, um ihm zu signalisieren, dass sie die sexuellen Handlungen nicht wollte.
Es kam zu einem Strafverfahren. Der Stiefvater gab die sexuellen Handlungen mehrheitlich zu, sagte aber, sie seien einvernehmlich erfolgt. Die Staatsanwaltschaft glaubte aber der jungen Frau und hielt schriftlich fest, dass «nicht davon die Rede sein könne», dass das Opfer zu den sexuellen Handlungen eingewilligt habe. Und was passierte dann? Das Strafverfahren wurde eingestellt. Nicht, wie so oft bei Sexualdelikten, mangels Beweisen. Sondern weil das Verhalten des Beschuldigten zwar «verwerflich» gewesen sei, aber leider strafrechtlich nicht relevant.
Dieser Fall ereignete sich nicht etwa im letzten Jahrhundert, sondern in den letzten fünf Jahren in der Schweiz. Er ist eines der Fallbeispiele aus der kantonalen Praxis, mit denen Nora Scheidegger und ich in unserer Publikation aufgezeigt haben, dass sich Beschuldigte wissentlich über den Willen des Opfers hinwegsetzen können, ohne sich wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung strafbar zu machen.
Der heutige Vergewaltigungstatbestand, also unsere Vorstellung einer «echten» Vergewaltigung, geht von einem stereotypen Sexualdelikt aus: der fremde Täter, der das Opfer gewalttätig überfällt und Spuren hinterlässt. Das stereotype Opfer wehrt sich, hat Verletzungsspuren und erstattet umgehend Anzeige. Mit diesem stereotypen Bild wurden wir alle sozialisiert.
Und auf diesen Stereotypen fusst unser geltendes, aber veraltetes, Sexualstrafrecht, das zuletzt vor 30 Jahren revidiert wurde und weder dem heutigen sozialen Kontext noch dem Wissenstand über Viktimologie und Psychotraumatologie entspricht. Konkret: Eine «Vergewaltigung» (gemäss Strafgesetzbuch Nötigung einer Person weiblichen Geschlechts zum Beischlaf) oder eine «sexuelle Nötigung» (gemäss Strafgesetzbuch Nötigung einer Person zu beischlafähnlichen und anderen sexuellen Handlungen) gilt nur dann als solche, wenn eine sogenannte Nötigungshandlung vorhanden ist. Eine Nötigungshandlung ist, eine Person zu bedrohen, Gewalt gegen sie anzuwenden, sie unter psychischen Druck zu setzen oder zum Widerstand unfähig zu machen. So kommt es, dass unzählige Sexualstraftaten gar nicht erst vor Gericht gelangen, weil der Beschuldigte, wie in obigem Beispiel, weder Gewalt angewandt noch angedroht hat.
Die meisten Täter wenden keine Gewalt an; erstens, weil sie erstens nicht dem stereotypen Bild des gewalttätigen Psychopathen entsprechen, und zweitens, weil es schlicht nicht nötig ist: Die meisten Menschen erstarren, wenn sie sich in einer solch bedrohlichen Situation befinden – dass man sich gegen sexualisierte Übergriffe wehren würde, ist eine verbreitete Selbstüberschätzung und ein sich hartnäckig haltender Mythos. Ohne Gegenwehr müssen die Täter keine Gewalt anwenden oder androhen, da sie die Überforderung und die Angst des Opfers und das meist bestehende Vertrauensverhältnis ausnutzen. Es ist wahrscheinlich, dass Täter gewalttätig würden, wenn das Opfer sie durch Gegenwehr dazu zwingen würde. Man könnte also ketzerisch behaupten, dass letztlich die Verantwortung dafür, ob ein sexualisierter Übergriff rechtlich als Sexualdelikt eingeordnet werden kann, dem Opfer zugeschoben wird. Dadurch zementiert das geltende Recht Vergewaltigungsmythen, wertet Opfer ab, und die Vorwürfe, die sich Opfer ohnehin bereits selber machen («Warum habe ich mich nicht stärker gewehrt?») werden institutionell noch verstärkt.
Kurzum: Es besteht dringender Handlungsbedarf. Das hat endlich auch die Politik erkannt. Vor kurzem hat die Rechtskommission des Ständerats dem neuen Vorschlag zugestimmt, die sogenannte «Nein heisst Nein»-Lösung einzuführen und auf das Element der Nötigung zu verzichten.
Bin ich zufrieden? Jein. Dass endlich die Bereitschaft da ist, auf das Element der Nötigung zu verzichten, ist zeitgemäss, sehr wichtig und richtig. Aber angesichts dessen, dass es wieder 30 Jahre dauern könnte, bis das Sexualstrafrecht revidiert wird, wäre es eine verpasste Chance, es nicht anständig zu machen und allen Opfern gerecht zu werden. Dafür genügt die «Nein heisst Nein»-Lösung nicht. Dafür muss eine «Erst Ja heisst Ja»-Lösung her. Wieso?
Stell dir vor: Jemand, den du nur entfernt kennst, steht eines Tages samt Koffer an deiner Tür, spaziert in deine Wohnung und bleibt. Als du irgendwann reklamierst, hält dir die Person vor, dass du ja nicht «Nein» gesagt hast. Was absolut unvorstellbar klingt, wäre Stand der Dinge, wenn die «Nein heisst Nein»-Lösung eingeführt würde: Wenn ein Opfer die sexuellen Handlungen über sich ergehen lässt, ohne in irgendeiner Weise zugestimmt zu haben, gälte es nicht als Vergewaltigung. Und das ist gefährlich, denn das heisst nichts anderes, als dass der grosse Graubereich zwischen einem «Ja» und einem «Nein» als «Ja» definiert wird: Solange man keine klare Ablehnung hört, wird impliziert, dass zugestimmt wird. Die «Erst Ja heisst Ja»-Lösung würde diesen grossen Graubereich abschaffen.
Die «Erst Ja heisst Ja»-Lösung würde auch den Momenten Rechnung tragen, in denen ein Opfer nicht in der Lage ist, «Nein» zu sagen: aus Überforderung, aus Angst oder wegen eines Machtgefälles. Die Botschaft wäre klar und deutlich: Schweigen ist kein Ja. «Ich bin müde» ist kein Ja. «Ich bin mir nicht sicher» ist kein Ja. Ein Sichwegdrehen ist kein Ja. Sondern: fehlender Konsens. Sex ist, wenn alle allem zustimmen – alles andere ist Gewalt.
Und nein, das geht nicht – wie immer mal wieder behauptet wird – auf Kosten der Erotik. Im Gegenteil: was gibt es Erotischeres, als ein «Ja»? Als ein «Ja, tu das!», ein «Ja, das turnt mich an!» oder ein «Ja, ich will dich jetzt sofort!». Eben.