Die letzten Wochen steckte ich in einer Vaterkrise. Mein psychotischer Sohn wurde unvorbereitet aus der Klinik nach Hause entlassen. Unser Familiensystem wurde bis über die Grenzen belastet. Hilfe konnten wir erst spät und nur unzureichend organisieren. Und ich verfiel in alte Suchtmuster.
Unterdessen habe ich mich wieder gefangen, lebe gesund, schaue zu mir. Mein Sohn hat sich zwischenzeitlich stabilisiert, wir durften heilsame Momente miteinander erleben. Doch nun scheint unser Home-Treatment-Versuch zu einem Ende zu kommen. Das Zusammenleben wird wieder schwieriger, seine Bereitschaft zu Kompromissen und Auseinandersetzung mit sich selbst schwindet, sein Verlangen nach Autonomie und einer unbegleiteten Reise wächst. Begleiten und loslassen, immer wieder.
Mein Bericht darüber hat viele Menschen berührt und betroffen gemacht. Einige schilderten ihre eigene Betroffenheit als Angehörige von Menschen mit psychischer Erkrankung. Und wie gut es ihnen tue, solche offenen Worte zu hören, sich verstanden zu fühlen.
Genau das Problem dahinter habe ich angeprangert: Dass psychische Leiden stark tabuisiert und schambehaftet sind, dass kaum ein offener Austausch darüber stattfindet. Und dass dieses Verschweigen und Unterdrücken zu noch mehr Leid und Abkapselung führt. Let’s talk about mental health.
Was mir als Vater in der Krise geholfen hätte
Und ich wurde gefragt: Was braucht es denn, dass Väter nicht in solche Krisen geraten? Was hätte mir geholfen? Ich sehe vier Punkte: eine Normalisierung von Väter-Krisen, mehr Sensibilisierung, Begleitung und Vernetzung von Vätern, gesündere Männlichkeitsnormen und schliesslich die Änderung von Einstellungen und Verhaltensweisen bei Behörden und Institutionen.
Väterkrisen sollten normal werden. Denn das würde bedeuten, dass Väter ihren Teil der Betreuungsverantwortung übernehmen. Wer das macht, kommt unweigerlich immer wieder an seine Grenzen. Vielleicht nicht so heftig wie ich kürzlich. Aber all die kleinen Alltags- und Entwicklungskrisen mitzuerleben und mitzutragen, macht eine aktive, involvierte Vaterschaft aus. Wer nur am Feierabend oder am Wochenende präsent ist oder nur da, wo es Anerkennung gibt oder Spass macht, verpasst etwas.
Für mich war dies nie eine Option. Und auch Studien wie der State of the World’s Fathers 2021 Report zeigen eindrücklich, wie wertvoll emotional und zeitlich involvierte Väter sind. Ihre Kinder verfügen über höhere Resilienz und Selbstwirksamkeit, bessere psychische Gesundheit, kognitive Entwicklung und soziale Einbettung. Bei ihren Partnerinnen oder Partnern fördern sie die berufliche Entwicklung, die Gesundheit und die Inanspruchnahme von unterstützenden Dienstleistungen. Sie selbst sind gesünder, haben eine höhere Lebens-, Beziehungs- und Elternschaftszufriedenheit. Sie stärken bei beiden Eltern die Beziehungszufriedenheit und fördern bei ihren Kindern ein egalitäres Rollenverständnis.
Was macht einen involvierten Vater aus?
Gründe genug, das Familien-Engagement von Vätern zu fördern. Noch immer arbeiten nur 12 Prozent der Väter mit Kindern bis 25 Jahren in Teilzeit. Der statistisch messbare Anteil der Familienarbeit ist weniger als ein Drittel – der direkte Betreuungsanteil dürfte deutlich tiefer sein.
Die generelle Einstellung verändert sich hin zu einer aktiven Vaterschaft. Aber die Hürden und Fehlanreize sind gross. Eine ausgebaute Elternzeit mit einem für Väter reservierten Teil wäre ein wichtiger Anfang. Damit bekommen Familien Raum und Zeit für diese prägende Übergangsphase, und Väter bekommen die Chance, die scheinbar fehlende Kompetenz bei der Kinderbetreuung auszugleichen.
Als sehr junger Vater hatte ich Mühe, in meine Rolle zu finden. Zwar war ich präsent, übernahm Verantwortung, kümmerte mich von Anfang an meist etwa zwei Tage pro Woche um unsere Kinder. Aber ich fühlte mich oft unsicher und war manchmal frustriert. Neben einer stillenden Partnerin, die das Kind ganz selbstverständlich beruhigen konnte und ohnehin alles viel besser zu wissen und zu machen schien, kam ich mir oft ungenügend vor. Ich gab mir zwar Mühe, konnte die gefühlt geringe Wirksamkeit aber nur mit viel Idealismus aushalten.
Auch mit meiner Vaterrolle allgemein hatte ich zu kämpfen. Wie kann ich als gefühlt erst halbwüchsiger Mann diese Ruhe und Reife haben, die mir mein idealisiertes Vaterbild vorschrieb? Wie kann ich als Maturand Geld verdienen, ein Kind mitbetreuen, eine Ausbildung machen, den Ansprüchen meiner damaligen Partnerin, der Welt und mir selbst genügen?
Wie man in die Vaterrolle findet
Da hätte mir Väterberatung gutgetan. Ein leicht zugänglicher Austausch mit einem erfahrenen Vater und Berater. Und die Vernetzung mit anderen Leidens- und Willensgenossen. Beides hatte ich nicht. Verschiedene Kantone sind nun daran, Väterberatungen aufzubauen, um Väter in sensiblen Entwicklungsphasen zu begleiten und zu bestärken. Die Erfahrungen sind sehr positiv, die Nachfrage steigt stetig. Trotz der geringen Beratungsaffinität von Männern.
Womit ich bei meinem nächsten Anliegen bin. Mir würde wie vielen anderen Männern weniger Coolness guttun. Wenn ich ein Kernstück der toxischen Männlichkeit definieren müsste, es wäre diese verdammte Coolness. Aus Angst davor, Gefühle und damit Schwäche zu zeigen, wollte ich die Kontrolle über die eigenen Emotionen bis hin zum Abspalten aller Gefühle. Der Preis dafür: Abstumpfung, Zynismus und verletzendes Verhalten.
Der Weg zurück ist anstrengend. Aber er lohnt sich. Kaum jemand hat mir meine Krise angemerkt. Wenn mich jemand nach meiner Befindlichkeit gefragt hat, kam die übliche Antwort: «Geht schon, streng halt.» Wie soll da jemand einsteigen und mich unterstützen können? Schulterklopfen und Kopfnicken reichen nicht.
Es braucht eine fortschrittlichere Psychiatrie
Und schliesslich zu den Institutionen. Manches läuft schief oder gar nicht, und vieles könnte verbessert werden. Es braucht eine Psychiatrie, die interdisziplinär arbeitet, sich an den Lebenswelten der Betroffenen orientiert und das soziale Umfeld miteinbezieht. Sozialpsychiatrische und Recovery-Ansätze sind da Schlüsselbegriffe. Home-Treatment bezeichnet die Behandlung von Patient:innen zu Hause. Was in den Niederlanden schon seit Jahrzehnten erfolgreich umgesetzt wird, hält in der Schweiz erst zaghaft in einzelnen Regionen Einzug.
Ich war sehr überrascht, die massive Diskrepanz zwischen den wohlklingenden Hochglanz-Prospekten und Fassaden unserer Psychiatrien und der gelebten Realität zu erkennen. Und wie schwer sich die Ärztinnen und Ärzte tun, Angehörige mit einzubeziehen, ihr Wissen und ihre unterstützenden Ressourcen zu nutzen. Ich wurde wie ein Störenfried behandelt, weil ich fand, mein Sohn bräuchte doch regelmässig Kontakt zu seiner Familie und eine sinnvolle Beschäftigung. Beides wollten wir ihm bieten, beides war von seinem Zustand her gut möglich. Aber die Klinik wollte nicht, aus wechselnden und fadenscheinigen Gründen. Ich habe immer wieder eine längst überwunden geglaubte Psychiatrie erlebt und andere Erfahrungsberichte gehört: verwahren und mit Medikamenten ruhigstellen. Medikamente sind in sehr vielen Fällen notwendig. Aber in fast allen Fällen nicht das Mittel zur Heilung tiefer liegender Traumata oder seelischer Leiden.
Da hat unsere Psychiatrie noch viel zu lernen. Aber Lernen setzt eine gewisse Kritikfähigkeit voraus. Und da wurde ich erneut massiv enttäuscht: Hinweise und Beschwerden wurden nicht ernsthaft geprüft. Kein wirksames Qualitätsmanagement.
Auch der Stellenwert der Pflegenden, der Sozialarbeitenden und auch der Psycholog:innen gegenüber den Ärzt:innen ist gering, und stark hierarchische Strukturen verhindern, dass motivierte Mitarbeitende sich und ihre Verbesserungsvorschläge einbringen können.
Da hilft es nur, sich zu vernetzen, sich zu wehren und sich für eine fortschrittliche Psychiatrie einzusetzen. Seitens Ärztinnen und Psychologen kommt (zumindest in Graubünden) wenig Druck: Zu stark sind die wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten von einer mächtigen Institution wie den Psychiatrischen Diensten. Und die Betroffenen und ihre Angehörigen sind in der Regel einfach froh, wieder draussen zu sein und nicht mit psychischen Leiden bzw. der Psychiatrie in Verbindung gebracht zu werden.
Doch es ist eine gewisse Dynamik am Entstehen. Es gibt Verbände wie Pro Mente Sana oder Angehörigenvereine und viele Betroffene, die sich Veränderungen wünschen. Die fachliche und ökonomische Evidenz für innovative und integrale Ansätze wie Home-Treatment sind klar. Und zu offensichtlich machte die Coronapandemie die Missstände in der Jugendpsychiatrie.
Ich wünsche mir, dass sowohl involvierte Väter als auch eine fortschrittliche Psychiatrie gefördert werden. Beide haben eine starke Lobby verdient.
Nicolas Zogg (40) ist Vater, Umweltingenieur, Landschaftsgärtner, prozessorientierter Coach und Väterberater. Seine beiden jugendlichen Kinder leben die halbe Woche bei ihm. Er engagiert sich in der Bündner Politik, in der Feuerwehr und für Gleichstellung.