Politolog:innen laufen sich schon mit Umfragen warm: Das Jahr 2023 wird politisch bedeutend. Im Herbst werden der National- und Ständerat neu gewählt, im Dezember der Gesamtbundesrat. Und das ist nicht alles: Auch die Kantone Zürich, Basel-Landschaft, Genf, Tessin und Luzern stellen ihr Parlament neu auf. Die stark veränderte politische Grosswetterlage seit 2019 – wir haben in der Zwischenzeit unter anderem eine Pandemie und einen Kriegsausbruch in Europa erlebt – sorgt für eine interessante Ausgangslage.
Obwohl die Frauen im Nationalrat seit den letzten Wahlen mit 42 Prozent so zahlreich vertreten sind wie nie zuvor, sind Politiker:innen gesamtschweizerisch gesehen noch immer deutlich in der Unterzahl. Schon der Ständerat schneidet mit 28 Prozent Frauen schlecht ab. Auf kantonaler Ebene beträgt der durchschnittliche Frauenanteil in allen Kantonsparlamenten 32 Prozent. Eine Ausnahme bildet das Kantonsparlament von Neuenburg mit einem Anteil von 60 Prozent Frauen. Dieser Querschnitt zeigt: Bei der politischen Frauenrepräsentation gibt es viel Luft nach oben. Das erklärte Ziel der überparteilichen Bewegung «Helvetia ruft!», die sich für mehr Frauen in der Politik engagiert: Frauen sollen zu gleichen Teilen wie in der Bevölkerung in allen politischen Gremien vertreten sein, also zur Hälfte.
Die Haus- und Familienarbeit schränkt Frauen auch in der Politik ein
Spricht man von politischer Frauenrepräsentation, muss auch die Vereinbarkeit von Familie und Politik aufs Tapet. Denn nach wie vor entfällt der grössere Teil der unbezahlten Care-Arbeit auf Frauen, auch bei der Kinderbetreuung. Gemäss der jüngsten Erhebung des Bundesamtes für Statistik leisteten Frauen mit Kindern unter 15 Jahren im Jahr 2020 pro Woche 52 Stunden Haus- und Familienarbeit, während Männer in der gleichen Familiensituation nur auf rund 32 Stunden kamen. Deshalb ist eine gute Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Politik relevant, um den Frauenanteil weiter zu steigern.
Wie viele Frauen und Männer mit kleinen Kindern momentan in der Schweizer Politik vertreten sind, ist statistisch nicht erhoben, aber der Bundesrat ist ein gutes Anschauungsbeispiel: Noch nie hatte die Schweiz eine Bundesrätin mit kleinen Kindern, und sechs von neun bisherigen Bundesrätinnen hatten gar keine Kinder. Bei den männlichen Regierungsmitgliedern sieht die Situation anders aus. Ein Beispiel ist SP-Bundesrat Alain Berset. Bei seiner Wahl waren seine Kinder zwischen fünf und neun Jahre alt. Dass er Vater von kleinen Kindern ist, war allerdings damals kein Thema und schon gar kein Hindernis für seine Wahl.
Wann ein Parlament tagt, ist entscheidend für die Vereinbarkeit
Aber wie steht es um die Vereinbarkeit von Politik und Familie neben dem Bundesrat, also in unserem Milizsystem und damit in den Parlamenten? GLP-Nationalrätin Corina Gredig, die im Kanton Zürich auch schon als Gemeinde- und Kantonsrätin politisiert hat, sagt: «Es ist nicht einfach, falls das Amt und die damit verbundenen Aufgaben ein Pensum von 20 Prozent übersteigen und kaum bezahlt sind, respektive die Entschädigung direkt wieder für die Kinderbetreuung ausgegeben werden muss.» Zur Einordnung: Im Zürcher Gemeinderat entspricht der Zeitaufwand einem 20- bis 30-Prozent-Pensum. Der Aufwand ist auch so hoch, weil in der Stadt Zürich natürlich deutlich mehr Geschäfte auf dem Plan stehen als in kleineren Gemeinden. Zur politischen Arbeit gehören neben den Rats-, Fraktions- und Kommissionssitzungen auch das Studieren von Unterlagen und das Ausarbeiten von politischen Vorstössen.
Ein zentraler Faktor in Bezug auf die Vereinbarkeit von Politik und Familie ist zudem das Parlamentssystem. Hier wird unterschieden zwischen Tages-, Abend- und Sessionsparlament. So tagt der erwähnte Zürcher Gemeinderat – ein Abendparlament – jeden Mittwochabend von 17 bis mindestens 20 Uhr, oft aber bis 21 oder 22 Uhr. Der Zürcher Kantonsrat – ein Tagesparlament – debattiert jeweils montags ab 8.15 Uhr, in der Regel bis zum Mittag. Das nationale Parlament tagt hingegen viermal jährlich während drei Wochen im Sessionsbetrieb, dazwischen finden die Kommissionssitzungen statt. Für die Vereinbarkeit ist dieses System nicht förderlich, findet die Politikerin und zweifache Mutter Corina Gredig: «Das Sessionsparlament ist am ungeeignetsten, weil Planbarkeit sehr wichtig ist. Kita- oder Horttage bucht man nicht nach Sessionen, sondern nach Tagen. Plus: Kinder lieben Vorhersehbarkeit.»
Wer Politik machen will, muss oft das Pensum reduzieren
Mélissa Dufournet, Zürcher Gemeinderätin, ist 2022 zum ersten Mal Mutter geworden. Sie muss die neue Rolle mit einem Abendparlament unter einen Hut bekommen. Dazu kommen die ebenfalls abends stattfindenden Kommissionssitzungen. Wie nimmt sie die politische Arbeit als junge Mutter wahr? «Anfänglich fällt Koordinationsaufwand an, um die Sitzungen mit der Arbeitgeberin und die Kinderbetreuung mit dem Partner abzustimmen. Hat man ein Setting gefunden, nimmt der Koordinationsaufwand massiv ab», sagt die FDP-Politikerin. Am aufwendigsten seien ausserplanmässige Angelegenheiten wie Interviewanfragen, kurzfristige oder geänderte Sitzungen. Aber: Das Abendparlament sei nicht förderlich für die Vereinbarkeit, ebensowenig wie ein Sessionsparlament. «Am einfachsten zu organisieren wäre ein Tagesparlament, weil keine Abendstunden tangiert sind und der Betrieb regelmässiger ist als im Sessionsparlament.»
Sollte bei kantonalen und lokalen politischen Ämtern also möglichst auf einen Tagesbetrieb gesetzt werden, um die Vereinbarkeit zu fördern? Wahrscheinlich schon. Nur: Das bringt andere Herausforderungen mit sich. Wer das Amt tagsüber ausführen muss, kommt kaum darum herum, sein berufliches Pensum zu reduzieren. Grössere Unternehmen stellen ihren Mitarbeitenden teilweise einen Teil ihrer Arbeitszeit für politische Arbeit zur Verfügung, für KMUs ist dies jedoch schwerer tragbar. Wird eine Pensumsreduktion nötig, bedeutet das finanzielle Einbussen. Wer in einer Niedriglohnbranche tätig ist – häufiger Frauen –, kann sich ein politisches Engagement also allenfalls gar nicht leisten.
Auch Männer sehen Handlungsbedarf
Nicht nur Frauen sehen beim Thema Vereinbarkeit von Politik und Familie Verbesserungspotenzial. Auch Männer erkennen Handlungsbedarf, so zum Beispiel der Glarner SP-Kantonsrat und zweifache Vater Christian Büttiker: «Da gibt es sicher noch reichlich Potenzial für Verbesserungen, da viele Termine unter Tag stattfinden.» Im Gegensatz zu seinen Kolleginnen schätzt er das Sessionsparlament als am geeignetsten ein. Dies sei für Eltern am besten planbar. Dass für Frauen die Vereinbarkeit eines politischen Amtes mit der Familie schwieriger sei als für Männer, findet er nicht: «Der Aufwand ist je nach Rollenaufteilung in der Familie verschieden. Es ist wichtig, dass nicht nur auf Frauen fokussiert wird, auch die Männer müssen und dürfen heute Familienbetreuungsaufgaben übernehmen.» Er sei beim ersten Kind neben seiner politischen Tätigkeit zwei Jahre Hausmann gewesen. Nach diesen zwei Jahren habe er sich langsam selbstständig gemacht. «Ich und meine Frau konnten so die politische und freiwillige Arbeit recht gut organisieren.»
Corina Gredig und Mélissa Dufournet sehen im Gegensatz zum SP-Politiker Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Einerseits gebe es ein Politikverbot für Mütter nach der Geburt, das allerdings hoffentlich bald aufgehoben wird. Andererseits sei es nach wie vor so, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter anders seien. Nationalrätin Corina Gredig verweist auf die Diskussion rund um Kinder und Mutterschaft im Vorfeld der letzten Bundesratswahlen. «Es ist nicht einfach, diesem Druck standzuhalten. Bei der x-ten Frage, wo denn die Kinder heute Abend schon wieder seien, wird man müde», so Gredig.
Schweiz belegt einen der letzten Plätze bei familienfreundlicher Politik
Wo müssen wir also ansetzen, um die Vereinbarkeit von Familie und Politik im Schweizer Milizsystem zu verbessern? Klar ist: Der Politbetrieb muss so regelmässig und damit so gut planbar wie möglich organisiert sein. Eigentlich greift dieser Ansatz aber zu kurz. Es geht um die ungleich verteilte unbezahlte Care-Arbeit, die zur Folge hat, dass Frauen eher unter der schlechten Vereinbarkeit leiden – sei es in der Politik oder im Beruf.
Der internationale Vergleich zeigt: Länder mit familienfreundlicher und damit vereinbarkeitsfördernder Politik – von Elternzeit bis zu ausreichend bezahlbaren Kita-Plätzen – haben auch eine höhere Frauenvertretung in ihren Parlamenten. So rangieren alle skandinavischen Länder im Vergleich der nationalen Parlamente vor der Schweiz, die in einem Unicef-Report zu familienfreundlicher Politik von 2019 gemeinsam mit Zypern und Griechenland die letzten Plätze belegte.
Immerhin geben die Zahlen des Bundesamtes für Statistik leisen Anlass zur Hoffnung: Von 2010 bis 2020 sind die unbezahlten Haus- und Familienarbeitstunden, die von Männern geleistet werden, langsam aber stetig von 16 auf 19 Stunden pro Woche gestiegen. Auf dass sich auch der Frauenanteil in unseren Parlamenten weiter in eine positive Richtung entwickelt. Fair vertreten sind wir nämlich erst, wenn wir durchgehend 50:50 erreicht haben.
Hinweis der Redaktion: Die Autorin des Artikels ist GLP-Gemeinderätin Stadt Zürich