Es gibt Ereignisse in einem Journalist:innen-Leben, die brennen sich tief ein. Das Jahr, in dem zuerst ein über zehn Meter hoher Tsunami die Küste der japanischen Hauptinsel Honshu flutete und anschliessend einen Super-Gau auslöste, die grösste Atomkatastrophe seit Tschernobyl. Eine apokalyptische Flut wischte einfach alles weg, Menschen, Autos, Häuser und mit ihnen Existenzen, Hoffnungen, Träume, sie löschte ganze Familien aus.
Und doch ist ein Bild, das mir geblieben ist, die absolute Ruhe, inmitten des Sturmes, welche die Menschen ausstrahlten, die in geduldigen Warteschlangen vor Essensausgaben anstanden, um das Lebensnotwendigste zu erhalten. Ich fragte mich, was wohl bei uns in derselben Situation geschehen würde. Faustrecht? Gehässigkeit? Ellenbogenmentalität? Das war im Frühling.
Im selben Jahr, nur wenige Monate später, es war bereits Sommer geworden, zündete ein Rechtsextremer in der norwegischen Hauptstadt, vor dem Büro des Ministerpräsidenten, eine Autobombe. Anschliessend zog er sich eine Uniform an und fuhr in das Ferienlager einer Jugendorganisation und erschoss mit einem Selbstlader 69 Menschen, unter ihnen viele Kinder. Als ich am nächsten Morgen auf die Redaktion kam, sah ich zum ersten Mal, wie selbst gestandenen Journalist:innen Tränen in die Augen schossen. Sie hatten schon viel gesehen. Über viel berichtet, aber dieses Jahr war einmalig, in seiner ganz eigenen zerstörerischen Weise.
Zuerst ein schwarzer Schwan, wie höchst seltene und unwahrscheinliche Ereignisse in der Soziologie auch genannt werden. Und anschliessend ein Blick in die tiefsten Abgründe menschlicher Möglichkeiten, in Form eines Amoklaufes, der so irrational wie schauderhaft war, und ebenfalls: Nicht vorhersehbar, nicht zu erklären.
Und ein wenig so, erging es mir, seit diese Woche ein erster russischer Angriff auf Donbass weltweit die Börsen erschütterte. Müde von zwei Jahren im Pandemie-Push und Breaking-News-Modus, hatte ich bis zuletzt gehofft, es bliebe beim Säbelrasseln. Doch Wegklicken geht nun nicht mehr. Und wieder die Bilder, die sich einbrennen.
Ein Video machte im Netz die Runde. Frühgeborene Kindchen, winzig neben den Sauerstoffflaschen, ohne die sie noch nicht überleben könnten, in einem Luftschutzkeller während eines Bombenangriffes in einer ukrainischen Stadt. Menschen, auf der ganzen Welt, die nachts Kerzen anzünden, alleine und gemeinsam auf der Strasse, vor den Rathäusern. Um sich wenigstens gegenseitig für einen kurzen Moment in ihrer Fassungslosigkeit nahe zu sein. Und zuhause, am nächsten Morgen dann: die Vögel zwitschern dem Licht entgegen in den Bäumen, alles geht seinen gewohnten Lauf, während 1600 Kilometer weiter östlich, nur etwas mehr als eine Nachtzugreise auf einem Interrail-Trip, ein Krieg ausgebrochen ist.
Das sind diese Tage, an denen man nicht weiss, was man wie erklären soll. Es sind Tage, in denen die Erschütterung Raum bekommen soll, das Mitgefühl, ohne voreilig vereinfachende Erklärungen auf das zu suchen, was gerade geschieht. Und sich damit sogleich wieder abzugrenzen.
Oder mit den Worten des Schweizer Schriftstellers Christoph Simon: «Willkommen in der Schweiz, liebe Ukrainer!»