Wir Geflüchtete sprechen selten über unsere Erlebnisse. Wir verschweigen, verdrängen, verschleppen und vererben sie. Wir kennen nicht nur die Abläufe, die Geschichten, den Schmerz, wir fühlen sie. Aber unser Innerstes weiss nicht, ob wir die Bedrohung und die Angst vor dreissig Jahren, vor drei Jahren oder vor drei Tagen erlebt haben. Es weiss manchmal auch nicht, ob es unsere eigene oder die unserer Eltern ist.
Irgendwann finden wir eine neue Heimat. Oder sie findet uns. Wenn sie begriffen hat, dass wir nicht mehr zurückkehren werden, weil wir dort nicht mehr verschweigen, verdrängen, verschleppen und vererben können. Weil das Erlebte nie vergangen sein wird. Wir trennen es lediglich von uns ab und stellen uns fremd in der neuen Heimat. Weil die alte Heimat unsere Verfolgung nicht mit dem Ende des Kriegs einstellt, sondern mit weiteren Repressalien fortführt. Also verschweigen, verdrängen und verschleppen wir, damit wir in der neuen Heimat für unsere Kinder hoffnungsvoll sein können. Vererben können wir unseren Kindern aber nur das, was wir auch selbst besitzen. Weil uns die emotionale Sicherheit im Krieg abhanden gekommen ist, holen wir uns diese bei unseren Kindern und vererben ihnen stattdessen unser Schweigen.
Wir sind Geflüchtete aus der Ukraine, aus Russland, aus Syrien, aus Afghanistan, aus Eritrea, aus Bosnien, aus dem Kosovo, aus Serbien, aus Kroatien, aus Sri Lanka, aus Ungarn, aus der Tschechoslowakei, aus Deutschland, aus Spanien, aus Chile und allen Ecken dieser Welt. Wenn wir in unserer neuen Heimat schweigen, bedeutet es nicht, dass wir vergessen haben. Wir wissen noch, wie der Boden für jeden Krieg gelegt wird: über jahrelange Desinformation und Propaganda. Wir wissen noch, zu welchem Genozid Menschen fähig sind, wenn das Gegenüber entmenschlicht wird.
Wir haben erfahren, wie schnell zivilisierte Menschen ihre Macht missbrauchen, wenn rechtsstaatliche Grundpfeiler ausgehöhlt werden, die ein Land vor solchem Machtmissbrauch schützen sollten. Viele von uns haben unseren Staatsoberhäuptern blind vertraut, weil die Menschen in unserem Land sich zu bequem waren, selbst für ihre Werte und ihren Rechtsstaat zu arbeiten oder weil sie gewaltsam davon ausgeschlossen wurden. Als unsere Rechtsstaaten morsch und unsere Werte negiert wurden, blieb uns nur noch das Vertrauen. Und als auch dieses zwangsläufig missbraucht wurde, mussten wir fliehen.
Wir erinnern uns an die lethargische Gleichgültigkeit der westlichen europäischen Staaten, als sie vom «Krieg in Afrika», «auf dem Balkan» oder «im Nahen Osten» sprachen, als würden sie mit den Demagogen Brettspiele spielen. Dabei war jeder dieser Kriege ein Angriff auf jene Werte, welche das «Europa des Friedens» für sich in Anspruch nimmt. Und so geschieht es, dass wir, wo bereits wieder Krieg ist in Europa, trotz aller inneren Widerstände unser Schweigen brechen und von unseren Erlebnissen erzählen. In der Hoffnung, dass sie in unserer neuen Heimat gehört werden. In der Hoffnung, dass unsere neue Heimat nicht demselben Hochmut verfällt, wie wir ihm einst verfallen sind. In der Hoffnung, dass unsere neue Heimat begreift, dass sie ihre Werteordnung mit aller Kraft verteidigen muss. In der Hoffnung, dass unsere neue Heimat nicht für alle wieder eine alte Heimat würde.