Vor einigen Jahren hielt ich an einer Fachtagung vor Staatsanwält:innen und Polizist:innen ein kurzes Referat über Vergewaltigungsmythen. Es war die wütendste Rede, die ich je gehalten habe. Auslöser für meine Wut war mein Vorredner. Ein bekannter forensischer Psychiater, der vor versammeltem Fachpublikum sexistische und opferabwertende Behauptungen in den Raum stellte. So sagte er unter anderem, dass «Opfer zu sein» auf viele Frauen Anziehungskraft habe, weshalb so viele Frauen auf den #MeToo-Zug «aufspringen» und sich als Opfer stilisieren würden. Er erntete bei einem grossen Teil des Publikums Kopfnicken, Applaus – und das Schlimmste: immer wieder Gelächter.
Ich betrat, zitternd vor Wut, die Bühne und sagte, dass ich überzeugt sei, dass Opfer von Sexualdelikten deshalb einen so schweren Stand in unserer Gesellschaft und unserem Justizsystem hätten, weil Vergewaltigungsmythen auch vor der Strafverfolgungsbehörde nicht Halt machten. Ich blickte in erzürnte Gesichter. Aber ich liess mich nicht beirren. Ich redete weiter und erzählte von diversen Situationen, die ich als Opferhilfeberaterin erlebt hatte: Eine Polizistin fragte, wieso das Opfer mit dem Beschuldigten mitgegangen sei, wenn sie nicht mal seine Telefonnummer kannte. Eine Richterin sagte, bei einer Vergewaltigung gehe es immer auch um die Mitwirkung des Opfers. Ein Staatsanwalt stellte die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage, weil es scheinbar zu emotionslos über die Vergewaltigung erzählte. Ein anderer fragte das Opfer über ihre früheren Sexualpartner aus, nur um dann festzustellen, dass es schwer vorstellbar sein, dass es sich bei dieser selbstbewussten Frau um ein mutmasslich wehrloses Opfer handle.
Es fehlte eine offene Diskussion
Ich prangerte an. Weil ich es so satt hatte, hautnah miterleben zu müssen, wie Mythen bei Einvernahmen und Gerichtsverhandlungen zementiert wurden und bei den Betroffenen so viel zusätzliches Leid auslösten. Meine Rede gab viel zu reden. Ich erntete Kritik. Viele im Saal fühlten sich zu unrecht beschuldigt, die Diskussionen glichen der von #NotAllMen. #NotAllMen begann als Gegenreaktion auf die an Männer gerichteten Anschuldigungen im Kontext sexualisierter Gewalt und ist schlussendlich nichts anderes, als eine Weigerung, anzuerkennen, dass sexualisierte Gewalt grossmehrheitlich von Männern ausgeübt wird und dass die meisten Männer mindestens indirekt dafür mitverantwortlich sind. Denn sie halten diese Rape Culture bewusst oder unbewusst aufrechter. Ja, #NotAllStaatsanwält:innen und #NotAllPolizist:innen zementieren Vergewaltigungsmythen und werten Opfer bei Einvernahmen ab – aber darum geht es nicht.
Ich hatte das Gefühl, dass Rape Culture und Vergewaltigungsmythen bis dahin keine offen diskutierten Themen bei den Strafverfolgungsbehörden waren. Besonders geblieben ist mir aber die Kritik einer Staatsanwältin. Sie kontaktierte mich nach der Veranstaltung und sagte: «Agota, rede das nächste Mal doch nicht so emotional. Dann wäre es angenehmer, dir zuzuhören.» An dem Tag habe ich mir geschworen, meine Emotionen und insbesondere meine Wut nie mehr zu verstecken und fortan jede Wut, auch beim Referieren, hemmungslos zuzulassen.
Wut lässt Männer stark und Frauen schwach wirken
Als Frau wurde ich in einer Gesellschaft sozialisiert, in der weibliche Wut als Zeichen von Hysterie und Wahnsinn gilt. Wut scheint das Privileg von Männern zu sein, mehr noch: Das Privileg weisser Männer. Eine im Jahr 2015 veröffentlichte Studie kam zum Ergebnis, dass Wut bei Männern oft als Stärke und Leidenschaft wahrgenommen wird und den Einfluss von Männern steigert. Wenn Männer die Wut einsetzen, um zu beschützen oder zu verteidigen, wird sie gar als Tugend angesehen. Ganz anders bei den Frauen: Gemäss erwähnter Studie mindert Wut den Einfluss von Frauen und führt dazu, dass sie nicht ernst genommen werden. Allerdings darf auch beim Thema Wut die Intersektionalität nicht ausser Acht gelassen werden: Wie so oft, wenn es um Sexismus geht, muss auch hier Rassismus mitgedacht werden. So wird die Wut von Schwarzen Männern, wie auch die von Schwarzen Frauen, viel stärker mit Gewalt und Aggressionen assoziiert, als dies bei weissen Menschen der Fall ist.
Aus Sicht einer patriarchalen Gesellschaft, in der Männer mit aller Macht ihre Privilegien verteidigen wollen, macht das alles Sinn: solange wütende Frauen als unkonstruktiv gebrandmarkt sind, müssen ihre (wütenden) Forderungen auch nicht ernst genommen werden. Viel eher werden wütende Frauen pathologisiert, als verrückt, irrational oder gar bösartig dargestellt. Und als hässlich – in einer Welt, in der es für Frauen eine Todsünde ist, hässlich zu sein.
Man erinnere sich, wie erst vor einigen Jahren ein schönheitschirurgischer Eingriff beworben wurde, der Frauen von ihrem genervten Gesichtsausdruck («Resting Bitch Face») befreien sollte. Soraya Chemaly, US-Amerikanische Journalistin und Autorin, schreibt in ihrem sehr lesenswerten Buch «Speak out!»: «Wut will normalerweise Nein sagen in einer Welt, in der Frauen darauf konditioniert sind, alles zu sagen ausser Nein.»
Unsere Wut muss raus
Dabei haben wir Frauen sehr viele Gründe, Nein zu sagen und wütend zu sein, denn wir werden immer noch strukturell diskriminiert, wohin man blickt. Wir werden sexualisiert, objektifiziert, entmenschlicht, belästigt, abgewertet, vergewaltigt und umgebracht – weil wir Frauen sind. Es gibt meines Erachtens absolut keine adäquatere Reaktion auf die fehlende Gleichberechtigung und die Gewalt als Wut.
Und diese Wut muss raus. Es ist hinlänglich bekannt, dass unterdrückte Wut krank macht, Nährboden ist für Selbsthass, Ängste, Depressionen und dass sie physische Erkrankungen wie Herzkreislaufstörungen begünstigt. Lassen wir uns also nicht mehr einreden, dass wir nicht wütend sein dürfen. Denn damit, so Chemaly, berauben wir uns genau jener Emotion, die uns am besten vor Gefahr und Ungerechtigkeit schützt. Lasst uns wütend sein, liebe Frauen! Denn Wut macht uns stark und hilft, Grenzverletzungen zu erkennen. Die Kraft, die wir aus der Wut schöpfen, können wir benutzen, um Diskriminierung zu bekämpfen. Wenn wir unsere Wut zulassen, nehmen wir uns ernst, und das ist das Mindeste, was wir uns selber schulden.
Und was ist mit den Strafverfolgungsbehörden? Die müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie den durch Wissen und Sensibilisierung gewandelten sozialen Anschauungen über Sexualdelikte entsprechend handeln oder nicht. Meine Erfahrung ist, dass sie es nur bedingt tun. Und das muss dringend anders werden. Das sind sie den Opfern schuldig.