Im Lockdown 2020 wurde ich zur Gamerin. Ein Spiel für die Playstation sollte es sein, meine Ansprüche waren überschaubar – dachte ich: Ich wollte eine weibliche Protagonistin, die nicht übersexualisiert dargestellt wird, dafür eine spannende Geschichte hat und unabhängig Abenteuer erlebt. Ein bisschen Ballern oder Kämpfen durfte gerne dabei sein, ich hatte einiges an Frust zu verarbeiten. Dennoch verlangte mir mein Vorhaben einiges an Recherche ab und es dauerte ein paar Tage, bis ich ein Spiel fand, das mir gefiel. Das erzählte ich Philomena Schwab. Die Game-Designerin erriet darauf auf Anhieb, für welches Spiel ich mich entschieden hatte: «Es kann nur Horizon Zero Dawn sein», lachte sie. Damit traf sie voll ins Schwarze.
Schwab schloss 2016 ihren Master im Game Design an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK ab, bereits ein Jahr danach gründete sie ihre eigene Firma «Stray Fawn». Das Wirtschaftsmagazin Forbes zählte Schwab 2017 zu den «30 unter 30» im Bereich Technologie in Europa, an der ZHdK trägt sie einen Ehrentitel und sie ist Vorstandsmitglied der Swiss Game Developers Association für unabhängige Schweizer Game-Entwickler:innen.
Dass ich so wenig Games gefunden habe, die mir gefallen, sei kein Zufall, meint Schwab: «Es gibt noch zu wenig Spiele, die Frauen ansprechen. Auch deshalb, weil es solche Games bei den Geldgebern noch immer eher schwer haben.» Schwab weiss, wovon sie spricht: Während ihres Masterstudiums entwickelte sie das Spiel «Niche», die Spielenden müssen hier eine Tierspezies erschaffen und sie trotz Klimawandel, hungrigen Feinden und Krankheiten am Leben erhalten. «Niche» spricht eine weibliche Zielgruppe an und erzielt beeindruckende Erfolge: Die Kickstarter-Kampagne brachte 72’000 Dollar ein, auf der führenden Download-Plattform Steam verkaufte sich das Game 250’000 Mal. Aber: «Ich hatte das Gefühl, es war schwierig, mit ‘Niche’ Preise zu gewinnen. Einerseits deshalb, weil das Game eine weibliche Zielgruppe hat und andererseits, weil gerade in den Jurys zumindest damals noch immer nicht genug Frauen sassen.
Kein Startkapital für "Frauenspiele"
Auch Selina Capol, Martina Hotz und Aleksandra Iakusheva stellen fest, dass man es mit Games, die sich an Frauen richten, schwer hat. Die drei studierten zusammen Game Design an der ZHdK und gründeten 2018 ihre eigene Firma «5am Games». Ihr erstes Spiel «Letters» erzählt die Geschichte eines Mädchens, das Briefe an ihre Freundin schreibt. Bis plötzlich Hindernisse auftauchen, die von den Spielenden beseitigt werden müssen – indem sie im Brief ein Wort finden, das die Aufgabe löst. Die Crowdfunding-Kampagne für die Finanzierung von «Letters» wurde mit 121 Prozent Einnahmen abgeschlossen, Interesse ist also vorhanden. Mögliche Investor:innen taten sich aber schwer: «Die grossen Firmen interessieren sich oft nicht für neue Ideen oder Sichtweisen, auch weil sie sich seit Jahren gewohnt sind, dass Männer die grösste Zielgruppe sind. Obwohl man mittlerweile weiss, dass das gar nicht stimmt», erzählt Selina Capol. Ein möglicher Investor sagte den drei Frauen sogar, sie sollen sich lieber an eine Organisation wenden, die spezifisch Frauenteams unterstützt. Ein anderer riet ihnen, sie sollen gar nicht so lange über das Spiel reden, sondern damit hausieren, dass sie ein reines Frauenteam sind. Es ist paradox, dass den drei Entwicklerinnen schon seit Beginn ihrer Karriere immer wieder vorgeworfen wird, sie hätten vor allem deshalb Erfolg, weil sie Frauen sind.
50 Prozent der Spielenden sind mittlerweile Frauen, trotzdem liegt der Frauenanteil bei den Entwickelnden gerade mal bei 22 Prozent. Woran liegt’s? Philomena Schwab fand den Einstieg in die Branche eher zufällig: Als Kind schrieb sie gerne Geschichten und zeichnete Comics. In der Oberstufe empfahl man ihr aber die Berufe Coiffeuse oder Floristin. Erst durch einen Freund, der eine Informatikerlehre machte, erfuhr sie vom Programmieren. «Er lieh mir seine Schulbücher aus, das Programmieren brachte ich mir selber bei», erzählt sie. Durch eine Freundin erfuhr sie vom Studiengang Game Design an der ZHdK und der Rest ist die Geschichte, an deren Ende Schwabs Firma «Stray Fawn» entstand. Zehn Mitarbeitende beschäftigt sie aktuell, vier davon sind Frauen.
Es brauche allgemein mehr Förderung von Mädchen und Frauen, findet sie: «Es gibt mittlerweile immer mehr Initiativen und Programme, die spezifisch Mädchen das Programmieren beibringen. Das ist so wichtig, es braucht mehr weibliche Vorbilder in der Branche.» Langsam aber sicher scheint sich eine Veränderung abzuzeichnen: den Zukunftstag vor drei Jahren bei «Stray Fawn» besuchte noch kein einziges Mädchen, dieses Jahr waren es schon drei. Auch hier spielen die Games selber eine Rolle, erklärt Schwab: «Es braucht starke Protagonistinnen und Geschichten, die Frauen ansprechen. Dann haben Frauen selber auch mehr Bock, Games zu entwickeln.»
Nicht nur in der Schweiz, auch auf internationaler Ebene befindet sich die Branche schon länger im Wandel: 2014, drei Jahre vor #MeToo, fingen Frauen im Rahmen der Aktion «Gamergate» an, über sexistische Diskriminierung und Online-Belästigungen in der Gamerwelt zu sprechen. Und erst jüngst äusserten sich Mitarbeiterinnen des Riesenkonzerns Activision Blizzard – der übrigens hinter «Candy Crush» und «Call of Duty» steht – über Frauenfeindlichkeit, ungleiche Bezahlung und sexualisierte Belästigungen. Der CEO trat ab und auch die Co-Chefin, die im Sommer kurzerhand einsprang, warf wenige Monate später wieder das Handtuch. Sie könne nicht hinter der Ethik des Unternehmens stehen, sagte sie. Man habe sie als Platzhalterin eingesetzt, um sich von den Seximusvorwürfen reinzuwaschen.
Sexismus vorprogrammiert
Philomena Schwab selber hat mit solcher Diskriminierung bisher keine Erfahrungen gemacht, erzählt sie. Sie weiss aber von Kolleginnen, die selber online spielen, dass sie Stimmenverzerrer einsetzen, ihre Stimme also männlich klingen lassen, «einfach weil sie keinen Bock auf Belästigungen haben, sondern in Ruhe gamen wollen». Dass man als Frau die eigene Geschichte von Diskriminierung öffentlich machen, den Shitstorm, der darauf vielleicht folgt, aushalten muss und sich trotzdem nicht viel ändert, ist für Tabea Iseli ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Iseli studierte ebenfalls an der ZHdK, ist Game Designerin und Programmiererin und Botschafterin der Organisation «Women in Games».
Im Rahmen ihrer Masterarbeit an der ZHdK setzte sich Iseli mit dem Thema Gender und Technologie auseinander. Im Studium habe sie eigentlich nie Probleme mit Sexismus gehabt, die fingen erst später an, in ihrem ersten Job als Programmiererin: «An den Game-Messen wurde ich von Besuchern immer wieder gefragt, ob ich nur am Stand stehe, um gut auszusehen. Oder sie sagten, sie wollten mit jemandem sprechen, der am Game beteiligt sei, ich mache ja sicher nur das Marketing. Hey, ich bin die Programmiererin dieses Games!»
Nach diesen Erfahrungen habe sie ihre Rolle als Frau in der Branche reflektiert und sich gefragt, wie ihre eigene Haltung diesbezüglich sei: «Wie reagierst du, wenn dein Teamkollege sagt: ‘Hey Tabea, komm aufs Foto, es braucht noch ein paar Brüste! Machst du dann auf cool und lässt solche Sprüche an dir abprallen oder wehrst du dich?»
2017 erlitt Iseli eine chronische Sehnenscheidenentzündung wegen Überarbeitung – «kein Wunder in einer Branche, in der zahllose Überstunden als selbstverständlich angesehen werden.» Das zwang sie, sich zu fragen: Mit all dem Sexismus, den ich erlebt habe, will ich das wirklich noch? Will ich hier arbeiten? Schnell wurde ihr klar: sie will. Sie fing an, sich mit anderen Frauen über Erfahrungen mit Diskriminierung und Sexismus innerhalb der Branche auszutauschen: «Das hat mir geholfen, weil es mir gezeigt hat: Wir sind nicht alleine». Die Lösung liegt für Iseli nun aber nicht darin, einfach mehr Frauen in die Games-Branche zu holen. Die Strukturen müssten sich von Grund auf ändern.
Ein Reset für die Games-Industrie
Das ist auch für Aleksandra Iakusheva von «5am Games» klar: «Irgendwie müssen wir das ganze System neu starten. So, wie es momentan ist, kann es nicht bleiben». Und ihre Kollegin Martina Hotz ergänzt: «Das System ist ja nicht nur männerfokussiert, sondern oft spezifisch und vor allem auf cis-heterosexuelle weisse Männer ausgerichtet – von echter Diversität sind wir noch weit weg. Es reicht nicht, einfach mehr Frauen in Führungspositionen zu setzen, die Haltung der grossen Firmen muss sich von Grund auf ändern.»
Was sich nun effektiv ändert und was dafür geschehen muss, mit dieser Frage beschäftigt sich Tabea Iseli auch über ihre Masterarbeit hinaus: «Es reicht halt nicht, einfach die faulen Äpfel rauszuwerfen. Sexistische CEOs hören nicht auf, sexistisch zu sein, die machen dann einfach in einem anderen Unternehmen weiter. Es ist 2022 und Sexismus ist auf vielen Ebenen noch immer ein Riesenproblem».
Iseli sieht es dennoch pragmatisch: Die Branche müsse sich selber neu erfinden, sie erzählt von hoffnungsvollen Grassroot-Movements, von Communitys aus der LGBTQIA+-Szene und von people of colour, die sich innerhalb der Branche zusammenschliessen, vernetzen und neue Firmen gründen – abseits von patriarchalen Vorstellungen und ungenügenden ethischen und moralischen Ansprüchen. Bis diese Bestrebungen Früchte tragen, dürfte es jedoch noch eine Weile dauern. Die Lösung liegt für Iseli nicht darin, ein kaputtes System zu flicken – man muss selber ein neues kreieren: «Anstatt zu versuchen, diesen Leute Sexismus auszutreiben, die daran kein Interesse haben», sagt sie, «will ich lieber die Leute pushen, die etwas verändern wollen, etwas Neues schaffen wollen. Die Energie von uns allen ist so doch viel besser investiert.» Und für alle andern springen in Zukunft so hoffentlich noch mehr Games mit vielfältigen Hauptfiguren und Handlungen raus.