In der Medizin gibt es bis heute einen Gender Health Gap. Das will Antonella Santuccione mit der Non-Profit-Organisation Women’s Brain Project ändern. Die Gründerin und Ärztin erklärt: «Unser Ziel ist es, dass sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht in der wissenschaftlichen Medizin berücksichtigt wird. Das ist ein Grundbaustein, damit auch in der Praxis mehr Wissen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden vorhanden ist und massgeschneiderte Behandlungen durchgeführt werden können.» Zur Untersuchung dieser Unterschiede plant die Ärztin, das erste Institut für Gender-Medizin in Basel zu eröffnen. Damit will sie den Weg in Richtung Präzisionsmedizin ebnen: «Diese Art von Medizin erkennt an, dass aus medizinischer Sicht nicht jeder Mensch gleich ist. Eine Frau ist kein klein geratener Mann – Frauen haben eine ganz andere Biologie. Erst wenn wir diesen Fakt anerkennen, können wir Patientinnen präzise behandeln.»
Von Mäusen und Männern
Geschlechtsspezifische Unterschiede wurden in der Medizin über lange Zeit gänzlich ignoriert. Die Food and Drug Administration (FDA) in den USA hat Frauen zwischen 1977 und 1993 gar gänzlich aus der frühen Entwicklungsphase von Medikamenten ausgeschlossen. Dieser Entscheid ist unter anderem auf die Contergan-Tragödie in den 1960er-Jahren zurückzuführen: In Deutschland wurde das Schlafmittel Contergan auch für die Bekämpfung der Morgenübelkeit von schwangeren Frauen verabreicht, was zu schweren Fehlbildungen bei Neugeborenen führte. Aus Sicherheitsbedenken und Furcht von Haftungsfällen wurden deshalb medizinische Studien in den 1980er-Jahren fast ausschliesslich mit Männern durchgeführt. Erst in den 1990er-Jahren kamen Forscher:innen zur Erkenntnis, dass geschlechtsspezifische Unterschiede für die Diagnose, den Verlauf und die Behandlung von Krankheiten bedeutend sein könnten.
Dennoch war der Frauenanteil in klinischen Studien auch nach der Jahrtausendwende noch sehr klein, insbesondere in den frühen Phasen der Medikamentenentwicklung. In präklinischen Studien ist es bis heute so, dass Versuchstiere wie Mäuse mehrheitlich männlich sind und das Geschlecht der Tiere in Publikationen nicht erwähnt wird. Erst im Jahr 2015 kam es zu einer regelrechten Explosion von klinischen Studien vor allem zu neurologischen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die das Geschlecht systematisch berücksichtigten. Einen Beitrag dazu hat auch das Women’s Brain Project von Santuccione geleistet. Seit ihrer Gründung 2016 hat die Organisation einen globalen Dialog über geschlechtsspezifische Einflussfaktoren bei Gehirn- und Geisteskrankheiten losgetreten.
Gender Health Gap – warum die Datenlücke fatale Folgen hat
Aus ihrer langjährigen Praxiserfahrung weiss Santuccione, wie wichtig die Berücksichtigung des Geschlechts bei der Diagnose und Behandlung von Patient:innen ist. Zum einen gebe es bei einer Anzahl von Erkrankungen geschlechtsspezifische Unterschiede: «Alzheimer tritt in siebzig Prozent der Fälle bei Frauen auf, Migräne und Depressionen sogar in achtzig Prozent. Bei Männern hingegen ist Parkinson und ALS viel häufiger. Es ist wichtig, dass wir wissenschaftlich untersuchen, weshalb das so ist.» So haben bisherige Studien des WBP gezeigt, dass die hormonelle Veränderung in der Menopause einen spezifischen Risikofaktor darstellt, der das Alzheimer-Risiko bei Frauen erhöht.
Der jahrzehntelange Rückstand bei der Datensammlung in der Wissenschaft habe aber zum anderen auch zur Folge, dass Krankheiten bei Frauen viel später diagnostiziert werden. Santuccione sagt: «Alzheimer wird bei Frauen oft viel später erkannt, weil die Symptome falsch gedeutet werden. Frauen zeigen in einer frühen Phase von Alzheimer oft Symptome einer Depression. Ich kenne Patientinnen, die über mehrere Jahre mit Antidepressiva behandelt wurden, bevor bei ihnen eine Alzheimer-Diagnose gestellt wurde.» Weiter hätten Frauen oft sehr gute sprachliche Fähigkeiten und könnten deshalb die kognitiven Einschränkungen in der frühen Phase von Alzheimer besser verstecken. Am Beispiel Alzheimer zeigt die Neurowissenschaftlerin auf, weshalb eben nicht nur das biologische Geschlecht, sondern auch das soziale Geschlecht eine Rolle spielt: «Frauen sind sozial anders eingebunden als Männer. Da sie häufig Betreuungsarbeiten zu Hause übernehmen, haben sie ein höheres Risiko, an Demenz oder Depression zu erkranken, weil sie sozial isolierter sind.»
Algorithmen sollen die Medizin personalisieren
Personalisierte Medizin geht Hand in Hand mit der Sammlung und Auswertung von Daten – auch mithilfe von Algorithmen. Die Ärztin Angelica Kohlmann hat vor vier Jahren das Unternehmen Bloom Diagnostics gegründet. Ziel ihres Start-ups ist es, medizinische Daten so zu übersetzen, dass Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung verringert werden können. Dazu entwickelt das Unternehmen verschiedene Heimtests, die den Patient:innen personalisierte Datenauswertungen auf das Smartphone liefern.
Bloom Diagnostics hat unter anderem einen Test entwickelt, der innert zehn Minuten die Menge an gespeichertem Eisen im Körper angibt. Ein anderes Produkt von Bloom Diagnostics gibt Auskunft über die Schilddrüsenwerte der Nutzer:innen. Kohlmann erzählt: «Viele der Themen, die wir mit unseren Tests adressieren, sind vor allem weibliche Themen. In unserer Bevölkerung leidet rund ein Viertel der Frauen an Eisenmangel, bei den Männern sind es nur ein Prozent. Schilddrüsenprobleme treten bei zehn Prozent der Menschen auf, meistens bei Frauen.»
FemTech geht über Fertilitätsthemen hinaus
Kohlmann erklärt, dass solche Erkenntnisse aufzeigen, dass sich der neue Industriezweig «FemTech» nicht nur auf Fruchtbarkeits- und Menstruationsthemen beschränkt. «Ich denke, dass wir gerade dann, wenn wir uns zu eng auf diese Themen fokussieren, Dinge übersehen. Oft sind Fragen rund um diese Themen mit diversen gesundheitlichen Aspekten verknüpft. Beispielsweise können Eisenprobleme ein Grund dafür sein, weshalb Frauen nicht schwanger werden können.»
Nicht nur die Häufigkeit von spezifischen Erkrankungen sei ein Grund, weshalb die Tests von Bloom Diagnostics vor allem von Frauen genutzt werden. Die Gründerin erklärt: «Frauen sind in unserem Gesundheitswesen in viel jüngeren Jahren bereits mit medizinischen Fragen konfrontiert. Beispielsweise gehen junge Frauen schon regelmässig zum Gynäkologen und erhalten da medizinische Beratungen. Deshalb kümmern sie sich schon früher um ihre Gesundheit und messen beispielsweise ihre Blutwerte regelmässig.»
Künstliche Intelligenz statt Ärzt:innen
Aus diesem Grund hat sich Bloom Diagnostics auf Heimtests spezialisiert, die Nutzer:innen regelmässig durchführen. Kohlmann sagt: «Zum einen können wir damit Frauen manche Besuche beim Arzt ersparen. Das entlastet unser Gesundheitssystem und ist kostengünstiger. Andererseits sehe ich darin eine Chance, um die Gesundheitsversorgung für Frauen in allen Ecken der Welt zu verbessern.» Gerade im globalen Süden hätten Frauen oft einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung als Männer.
FemTech bedeutet für Kohlmann, dass Medizin für alle entwickelt wird. Nebst dem Zugang zur Medizin gehöre dazu auch, dass medizinische Daten nicht nur anonym gesammelt, sondern auch analysiert werden. Tests, die auf Basis von künstlicher Intelligenz Resultate liefern, seien eine grosse Chance, um medizinische Ergebnisse zu präzisieren. Zum anderen seien aber auch die indirekten Erkenntnisse aus den Tests von grosser Bedeutung: «Der Algorithmus kann durch die zahlreichen Auswertungen Muster erkennen. Dies wiederum erlaubt es uns, in Zukunft bessere und personalisierte Behandlungsmethoden und Arzneimittel zu entwickeln.»
Sowohl Kohlmann als auch Santuccione sind sich einig, dass die Zukunft der Medizin in der Digitalisierung liegt. Statt Ärzt:innen würden vermehrt Algorithmen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, Diagnosen treffen. Diese würden erkennen, dass es profunde Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. «Wir wissen bereits heute, dass Algorithmen wie zum Beispiel vom Start-up Altoida sofort erkennen, ob es sich bei einem Gehirn um ein blaues oder ein rosa Gehirn handelt», so Santuccione. Schliesslich könnte das ein wichtiger Schritt sein, dass Patient:innen künftig schneller und besser behandelt werden.