Ondine Riesen schmunzelt und überlegt kurz. Dann sagt sie: «Eigentlich ist es ganz einfach: Wir sind eine Gruppe von Menschen, die alle gecheckt haben, dass es zusammen besser geht als alleine.» Und weil das so ist, hat diese Gruppe beschlossen, ihr Geld miteinander zu teilen. Geteilt wird über die Onlineplattform «Ting Community». Ondine ist jedoch nicht nur selbst Mitglied der Community. Zusammen mit Ralph Moser, Silvan Groher sowie dem Think Thank für Digitalisierung Dezentrum hat sie Ting 2019 gegründet. Heute ist die 41-Jährige Teil des inzwischen sechsköpfigen Teams, das im Hintergrund arbeitet und die Idee weiterentwickelt.
Das Versicherungsprinzip
Aber erst mal von vorne: Was macht die Community überhaupt? Das Prinzip ist ähnlich wie bei einer Versicherung: Wer Mitglied ist, zahlt regelmässig Geld auf ein Gemeinschaftskonto ein. Die Beträge variieren. Man entscheidet selbst, wie viel man einzahlen will oder kann. Der Mindestbetrag ist 10 Franken pro Monat. Das Kapital, das so zusammenkommt, steht den Mitgliedern zur Verfügung. Für ihre Projekte oder «Weiterentwicklungen», wie sie die Community nennt.
Geld aus dem Topf gibt es, wenn jemand ein Vorhaben oder ein Projekt einreicht, das «intrinsisch motiviert ist, das eigene Leben verbessert und einen Mehrwert für die Gesellschaft bringt». Das klingt sehr gross, ist es aber nicht. Ting ist offen, was die «Weiterentwicklungen» angeht. Zu den Möglichkeiten zählen unter anderem Aus- und Weiterbildungen, der Schritt in die Selbstständigkeit, aber auch kulturelle Vorhaben oder Innovationen aller Art. Ob ein Projekt die Vorgaben erfüllt, beurteilt ein Gremium bestehend aus Community-Mitgliedern sowie einem externen Ethiker. Wird ein Projekt bewilligt, gibt es Geld aus dem Ting-Topf. Zurückzahlen muss man den Betrag nicht. Die Unterstützung funktioniert ähnlich wie ein zeitlich begrenztes bedingungsloses Grundeinkommen. Wie viel man bekommt und wie lange man die Unterstützung erhält, ist unterschiedlich. Unter anderem hängt dies davon ab, wie viel man selbst in den Topf einbezahlt hat. Maximal gibt es für ein Vorhaben während eines halben Jahres 2500 Franken im Monat.
Von Permakulturen bis zu Therapien
Bis heute zählt Ting 323 Mitglieder und hat 35 Weiterentwicklungen genehmigt oder unterstützt. Was daraus entsteht? Ganz vieles. Die Bandbreite reicht von politischen Engagements über Bücher bis zu Ausbildungen und der Selbstständigkeit. Da wurde beispielsweise eine Online-Plattform zum Thema Permakultur entwickelt. Es entsteht ein Kochbuch zur saisonalen Wildkräuterküche, ein Kollektiv für faire und nachhaltige Architektur oder ein Label für Do-it-yourself-Schnittmuster. «Unsere Überzeugung ist, dass in der Gesellschaft viele Ideen vorhanden sind. Oft haben die Menschen dahinter aber nicht die Energie, die Zeit oder eben die Mittel, sich auf diese Ideen zu konzentrieren», sagt Ondine. Wer den ganzen Tag einer Erwerbsarbeit nachgehe oder in der Familie eingespannt sei, habe am Abend nicht noch die Kraft, sich um den Gemeinschaftsgarten zu kümmern. Hier will Ting Spielraum schaffen, und zwar explizit auch für Menschen mit kleinen Einkommen. Denn Innovation, so betont Ondine, soll überall stattfinden können, in allen Bevölkerungsschichten und Lebenslagen: «Es macht etwas mit einem, wenn man weiss, dass man sich auf ein Vorhaben konzentrieren kann, ohne dass man in finanzielle Schwierigkeiten gerät. Das ist sehr befreiend. Für einen einzelnen, aber auch für die Gesellschaft.»
Gründer:innen kommen aus unterschiedlichen Bereichen
Entstanden ist Ting vor rund drei Jahren. Die Macher:innen, die dahinter stehen, kommen aus unterschiedlichen Ecken. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass es in Sachen Finanzen und gesellschaftlichem Leben «noch irgendwie anders gehen muss». Die ursprüngliche Idee stammt von Ralph Moser und Silvan Groher. Die beiden engagierten sich 2016 für das bedingungslose Grundeinkommen. Als die Abstimmung scheiterte, wollten sie trotzdem weitermachen – in einer anderen Form. Die Idee für Ting drehte, war aber noch nicht konkret. 2019 stiess Ondine dazu. «Ich kam von einem Sabbatical aus Valencia zurück. Auf der Suche nach meiner beruflichen Zukunft lernte ich über eine Freundin Silvan kennen. Das hat wie die Faust aufs Auge gepasst», erzählt sie. Bis dahin hatte die Politikwissenschaftlerin beim Bund, auf einer Redaktion sowie bei der Gemeinnützigen Gesellschaft Biel gearbeitet. Auf ihrem Weg hat Ondine gemerkt, dass sie aufhören muss, gegen alte Strukturen zu kämpfen und sich lieber für neue Wege einsetzt. In einer langen Nacht in Sumiswald entstand schliesslich die ausgereifte Idee für Ting.
Eine Idee, von der Frauen profitieren
Neben der Lust, Ideen zum Fliegen zu bringen, will Ting auch Lücken im Bereich der Finanzierung schliessen. Denn die Community ist überzeugt, dass es trotz Stipendien, Krediten, Mikrokrediten, Investoren, Crowdfunding, Familien und Freunden noch Bedarf bei der Geldbeschaffung gibt. «Ich weiss, es gibt viele Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Aber es gibt eben immer nur Geld für Gegenleistung», sagt Ondine. Man müsse entweder eine bestimmte Ausbildung absolvieren oder das Geld zurückzahlen, teilweise mit Zinsen, oder eine sehr erfolgversprechende Idee haben, und, und, und. «Bei uns kann man sich Geld holen, um sich auszuprobieren – ohne Erfolgsdruck. Das schafft Möglichkeiten für Projekte, die nie von einem Investor oder einer Investorin unterstützt würden, aber trotzdem wichtig sind.»
An diesem Punkt schlägt Ondine die Brücke zu den Frauen. Sie sind zahlreich bei Ting. «Wir haben viele Frauen als Mitglieder, die Geld beantragen. Die meisten von ihnen beantragen Geld für ihre persönliche Entwicklung, also für Weiterbildungen oder Ausbildungen oder für ihre Selbstständigkeit.» Ondine sieht darin eine Bestätigung dafür, dass Ting gerade für Frauen ein wichtiges Angebot sei. «Viele Frauen sind bescheiden, weil wir so sozialisiert wurden. Es fällt uns schwerer, uns selbstbewusst hinzustellen und zu sagen: Ich habe eine super Idee und brauche jetzt Geld. Auch hier wollen wir eine Lücke füllen.»
3000 Mitglieder sollen es werden
Die Idee, die vor rund drei Jahren in einer Hütte in Sumiswald entstanden ist, hat inzwischen Fahrt aufgenommen. Pro Monat werden derzeit etwas mehr als 23'000 Franken geteilt. War es zu Beginn noch schwierig, das Geld aus dem Topf unter die Leute zu bringen, gibt es heute eine Warteliste. «Genau das wollen wir. Die Mitglieder sollen das Geld beziehen und was damit machen», freut sich Ondine. Und auch finanziell ist die Zukunft des Vereins gesichert. Erst vor kurzem hat der Migros Pionierfonds, der das Projekt von Anfang an finanziell begleitet, seine Unterstützung für die nächsten Jahre zugesichert. Anschliessend soll Ting auf eigenen Beinen stehen und Inspiration und Möglichmacher:in für mindestens 3000 Mitglieder sein.