Als sich die Bloomberg-Journalistin Parmy Olson das erste Mal auf der Virtual-Reality-Plattform von Zuckerbergs Konzern Meta einloggte, wählte sie einen Avatar, der ihrem Aussehen im wirklichen Leben nahe kam: glattes braunes Haar, Blazer und Jeans. Kurz darauf war sie umgeben von männlichen Avataren in Lederjacken. Sie kamen ihr immer näher und flüsterten ihr ins Ohr. Olson beschreibt: «Einige begannen dann ihre Daumen und Zeigefinger vor sich zu halten und einen Rahmen zu bilden. Zwischen ihren Händen erschienen digitale Fotos von meinem verwirrten Avatar. Einer nach dem anderen begann, mir die Fotos zu überreichen. Die Erfahrung war verstörend, und ich fühlte mich ein wenig wie ein Objekt.»
Zwischen Fantasie und Realität
Lea Strohm ist Expertin für digitale Ethik beim Unternehmen Ethix. Sie sagt: «Da das Metaverse alltagsnahe Erfahrungen mit allen Sinnen ermöglicht, fühlen sich Erlebnisse in der virtuellen Welt sehr echt an. Es ist einfacher denn je, der Realität zu entfliehen.» Tatsächlich werden nebst Virtual-Reality-Brillen bereits Technologien entwickelt, die Gerüche verströmen oder uns virtuelle Oberflächen spüren lassen. Was macht das mit den Menschen? Laut Strohm wirken sich alle Virtual-Reality-Technologien auch auf die mentale Gesundheit der Nutzer:innen aus. «Sowohl positive als auch negative Erfahrungen in virtuellen Welten werden durch das dreidimensionale Internet verstärkt. Es macht noch leichter abhängig als das Internet 2.0, was wiederum zu sozialer Isolation und Realitätsverlusten führen kann.»
Fantasien hätten das menschliche Wesen schon immer ausgezeichnet, sagt Claudia Paganini. Die Medienethikerin an der Hochschule für Philosophie in München weiss aus der Resilienzforschung, dass Menschen in widrigen Umständen überleben können, wenn sie sinnstiftende Narrative für sich entwerfen. Sie erklärt: «Viele Menschen entfliehen bei belastenden Situationen in Fantasiewelten, oft nur in ihrem Kopf. Wir sollten deshalb das Metaverse nicht vorschnell verurteilen. Parallelwelten können Menschen als Zufluchtsort dienen.» Gerade psychische Erkrankungen seien noch immer stark stigmatisiert und würden deshalb oft nicht behandelt. Paganini betont, dass virtuelle Welten keine Therapie ersetzen können, aber zugänglicher sind und Hilfesuchenden ersten Halt und Sicherheit bieten könnten. Zum gleichen Schluss kommt auch eine Studie der Universität Oxford. Sie zeigt, dass virtuelle Realitäten zur Behandlung bestimmter Phobien und psychischer Erkrankungen nützlich sein können.
Die grosse Alltagsflucht
Lea Strohm erkennt im Metaverse vor allem Möglichkeiten zum Experimentieren, denn User:innen können nicht nur fremde Welten erkunden, sondern auch ihre Identität neu erfinden. Für Medienethikerin Paganini kann das Metaverse deshalb insbesondere Jugendlichen helfen, die eigene Identität zu finden: «Das Metaverse erlaubt es uns, mit verschiedenen Rollenvorstellungen zu experimentieren, ohne soziale Sanktionen zu riskieren.» Als Beispiel nennt sie Buben, die Mädchenkleider ausprobieren wollen. «In der realen Welt würden sie sich dies vielleicht nicht trauen, aus Angst vor den sozialen Folgen. Das Metaverse kann als Spielwiese für solche Experimente dienen.»
Die bunte Spielwiese berge aber auch Abgründe für die Psyche der Nutzer:innen, sagt Paganini. Insbesondere wenn der Unterschied zwischen virtueller und realer Welt zu gross sei, könne dies die Betroffenen verwirren. «Nutzer:innen müssen sich bei einer zu grossen Kluft zwischen der virtuellen und realen Identität folgende Fragen stellen: Wo bin ich wirklich ich selbst? Was sagen meine Handlungen im Metaverse über mich aus? Welche Aspekte fehlen mir im realen Alltag? Was sind unbefriedigte Träume? Welche Ängste habe ich?», führt die Ethikerin aus. Die Flucht in virtuelle Welten allein sei ein Verdrängungsmechanismus und würde auf lange Frist bei der Identitätssuche nicht helfen.
Wild West im Metaverse
Nebst gesundheitlichen Risiken wie Realitätsverlusten sieht Lea Strohm vor allem Gefahren der Sicherheit und Verantwortung in der neuen virtuellen Wert. Sie sagt: «Kryptowährungen, NFTs und Metaverse stammen alle aus der gleichen Strömung. Anonymität ist ein Grundstein dieser dezentralen Technologien.» Laut dem Center for Countering Digital Hate findet allein auf der Plattform Horizon Worlds von Zuckerbergs Konzern Meta alle sieben Minuten ein Übergriff statt. Dazu zählen beispielsweise rassistische Äusserungen oder Cybermobbing. Strohm bedenkt, dass die Moderation von Inhalten bereits in den sozialen Medien sehr schwierig sei: «Im Metaverse finden Erlebnisse in Echtzeit und multimedial statt – das macht die Überwachung von Inhalten und Verhalten noch viel schwieriger.»
Da Metaverse-Plattformen so angelegt sind, dass der Körper virtuelle Erfahrungen kaum von realen unterscheiden kann, hat Gewalt auf Metaverse-Plattformen für die Opfer schwerwiegende Folgen. Paganini erklärt: «Die Identifikation mit dem eigenen Avatar auf Metaverse ist sehr gross. Virtuelle Gewalt wird deshalb ähnlich wie reale Gewalt erlebt. Das ist vergleichbar mit sogenannten ‹hands-off-Übergriffen›». Damit sind sexuelle Belästigungen gemeint, bei denen es zu keiner physischen Berührung kommt, wie beispielsweise anzügliche Chatnachrichten. «Auch diese Formen von Belästigung haben psychische Folgen für die Opfer.» Zu sexuellen Belästigungen kam es auf Virtual-Reality-Plattformen schon reihenweise. Bereits wenige Tage, nachdem die Plattform Horizon Worlds online gegangen war, gingen die ersten Meldungen von sexuellen Belästigungen ein. In Anbetracht dessen, dass in Europa über ein Drittel aller Frauen in ihrem Leben eine sexuelle Missbrauchserfahrung machen, seien virtuelle Belästigungen ebenfalls sehr problematisch, so Paganini. «Erfahrungen im Metaverse können Erinnerungen wachrufen, die unglaublich intensiv sind und Betroffene in Panik versetzen», sagt sie.
Lea Strohm befürchtet, dass viele Nutzer:innen von Metaverse noch zu wenig sensibilisiert sind auf solche Themen. Viele Menschen seien sich gar nicht bewusst, dass sie durch Handlungen im Metaverse Menschen real verletzen können. Sie sagt: «In der Ethik wird vom sogenannten Äquivalenzprinzip gesprochen: Wenn es falsch ist, eine Person einer Erfahrung auszusetzen, dann ist auch die Simulation dieser Erfahrung falsch. Dieser Grundsatz sollte uns auch im Metaverse leiten. Bevor diese ethischen Fragen nicht geklärt sind, sollte die breite Masse gar nicht auf die Technologie zugreifen können.»
Schutzzonen für Avatare
In der digitalen Welt Gesetze durchzusetzen, sei schwierig, sagen sowohl Strohm als auch Paganini. Medienethikerin Paganini fordert deshalb – neben der Förderung der Medienkompetenz – auch technische Lösungen, die im Dialog mit den Anbietern von Metaverse entwickelt werden sollen. Beispielsweise können User:innen auf der Plattform Horizon Worlds eine Schutzzone aktivieren, damit ihnen andere Avatare nicht zu nahe kommen. Paganini ergänzt: «Denkbar wären auch Pop-up-Fenster, die über ethische Standards und Gefahren im Metaverse aufklären. Wir müssen den User:innen Anstösse zum Nachdenken geben, ohne dass die Freude an der Plattform gemindert wird.» Paganini findet es wichtig, dass die Nutzer:innen bei der Entwicklung von Metaverse mitreden und ihre Bedürfnisse ausdrücken. «Diese Tech-Konzerne haben ihre Reputation zu verlieren, deshalb sind sie bei einer starken Interessenvertretung oft auch gesprächsbereit.»
Lea Strohm möchte noch einen Schritt vorher ansetzen. «Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir unser Leben in einer lebensechten und virtuellen Welt verbringen wollen. Erst dann stellt sich die Frage, wie wir eine solche Welt umsetzen können, ohne grosse Schäden anzurichten.» Gemäss Strohm ist deshalb die Beteiligung von vielerlei Akteuren ausserhalb des Tech-Space bei der Debatte rund ums Metaverse gefordert.
Lese hier auch die anderen Episoden der Serie "Digitaler Trend Metaverse". Teil 1, "Neuerfindung oder Revival?", erklärt die Grundlagen und Begriffe rund um die neue virtuelle Welt. Teil 2, "Willkommen an der Meta-Party", erkundet das kommerzielle Potential und ergründet den Boom kritisch.