Die Präsidentin von Wikimedia CH, Muriel Staub, setzt sich für die Sichtbarkeit von Frauen auf der Informationsseite Wikipedia ein. Zum siebten Mal findet am Mittwoch der dafür ins Leben gerufene Edit-a-thon statt. Staub sagt: „Wikipedia muss (noch) viel besser werden.“
Muriel Staub, in Medienberichten hast du den Schreibmarathon auch schon als Bewegung bezeichnet, wodurch zeichnet sich diese aus?
Über die Jahre ist ein Zugehörigkeitsgefühl entstanden. Insgesamt handelt es sich um einen Pool von über 300 Menschen, darunter Journalist:innen von SRF und Ringier. Jedes Jahr kommen neue hinzu. Gleichzeitig bleiben uns viele treu. Manche rufen durch das Projekt wiederum eigene Projekte ins Leben. So hat beispielsweise eine Professorin der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz solche Schreibanlässe in ihre Kurse integriert und sie schreiben jetzt auch Wikipedia-Artikel über Frauen. Es ist schön, wenn wir Menschen inspirieren. Ich spüre eine starke Identifikation mit der Sache.
Hinter Wikipedia steht ja eine ganze Community, die sogenannten Wikipedianer:innen. Sie verfassen Beiträge und legen Relevanzkriterien fest. Verschmelzt eure Bewegung mit dieser herkömmlichen Community?
Ein Teil unserer eher weiblichen Bewegung geht in die bestehende Community über, ja. Aber diese existiert auch parallel. Die Wikipedianer:innen – also die Menschen, die in ihrer Freizeit an Wikipedia mitschreiben – leisten unheimlich viel Arbeit, das ganze Jahr hindurch. Sie sind wie fleissige Heinzelmännchen und -frauchen, machen unsere Entwürfe fertig und kategorisieren sie. Weil Wikipedia so transparent ist, können diese nachvollzogen werden. Ausserdem unterstützen sie uns während unserer Anlässe.
Wächst mit dem Edit-a-thon also auch langfristig die Zahl der weiblichen Autor:innen auf Wikipedia? Laut Umfragen sind es nur 10 bis 20 Prozent.
Diese Zahlen stammen aus einer etwas veralteten Umfrage, aber ja, es gibt nach wie vor ein Ungleichgewicht - und der Edit-a-thon setzt genau hier an. Insbesondere auch unter den Administrator:innen herrscht ein Geschlechterungleichgewicht. Die Administrator:innen werden von der Basis gewählt und haben demnach auch mehr Macht. Diese Domäne ist sehr männlich geprägt. Ich finde es schwierig zu sagen, warum der Frauenanteil so gering ist, wahrscheinlich ist es eine Kombination aus verschiedenen Faktoren.
Sue Gardner, die ehemalige Geschäftsführerin von Wikimedia Foundation, sagte einst, auf Wikipedia herrsche eine frauenfeindliche Atmosphäre, siehst du das auch so?
Als Autorin habe ich keine Diskriminierungserfahrungen. Die Schweizer Community empfinde ich als sehr kollegial, man kennt sich und der Austausch ist konstruktiv. Vielleicht werde ich als Präsidentin des Vereins Wikimedia CH aber auch weniger angegriffen, da ich exponierter bin.
Diversität ist dir also wichtig.
Natürlich! Durch Diversität entstehen verschiedene Perspektiven. Es ist einfach: Wer mitschreibt, prägt Wikipedia, die Autorenschaft und der Output hängen stark zusammen.
Mehr weibliche Autor:nnen heisst also mehr Artikel über Frauen?
Ja, das kann man wahrscheinlich so sagen. An der Anzahl Biografien kann auch der nachhaltige Effekt des Edit-a-thon gemessen werden: Wir haben über 450 Artikel neu erfasst, davon sind derzeit 383 live, 50 bestehen in Entwurfsform, 28 wurden gelöscht. Unvorstellbar, dass viele dieser Biografien einmal keinen Eintrag hatten.
Ihr habt also die Sichtbarkeit der Frauen erhöht.
Ja, es geht aber auch um ihre Auffindbarkeit. Diese ist immer auch ein Zusammenspiel mit den Medien. Wenn eine Journalistin beispielsweise eine Epidemiologin im Netz sucht, findet sie heute Emma Hodcroft von der Universität Bern vielleicht leichter, da sie einen Wikipedia-Eintrag hat. Uns geht es aber nicht nur um Biografien, sondern um einen ganzheitlichen Ansatz: Wir wollen Frauen auch in Listen aufnehmen oder sicherstellen, dass auf ihre Biografien in übergeordneten Artikeln verlinkt wird.
Welche Frau hast du selbst sichtbar gemacht?
Die Ökonomin Iris Bohnet, sie ist die erste Schweizer Harvard-Professorin und Verwaltungsratsmitglied der Crédit Suisse, eine Koryphäe auf ihrem Gebiet, aber hatte damals keinen Wikipedia-Eintrag! Ich sehe gerade, dass dieser immer noch viel zu kurz ist, das nehme ich auf die To-Do-Liste für den heutigen Edit-a-thon (lacht).
Arbeitet ihr eigentlich Themenblöcke ab?
Wir haben immer mal wieder Schwerpunkte, halten es aber eher allgemein. Während der ersten Corona-Welle haben wir beispielsweise Epidemiolog:innen sichtbar gemacht. Und für heute stehen die Frauen der Paralympics sowie der olympischen Spiele im Fokus.
Was muss man denn leisten, damit man einen Wikipedia-Eintrag erhält?
Wichtig ist, dass die Person überregional und wiederkehrend in der medialen Berichterstattung vorkommt. Es soll eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses sein. Die Relevanzkriterien sind sehr detailliert ausgearbeitet - und nicht immer unproblematisch. Aber sie sind natürlich wichtig. Alleine in der deutschsprachigen Wikipedia gibt es über 2.5 Millionen Artikel, die Wikipedia soll dabei nicht zu einem Personenverzeichnis verkommen, sondern eine Enzyklopädie bleiben. Da braucht es Kriterien.
Ist es als Mann einfacher, einen Eintrag zu bekommen?
Die Frage ist vielleicht auch: Schreiben Männer eher über Männer? Ich möchte hier aber nicht Stereotypen bedienen. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass eispielsweise der Gewinn eines Nobelpreises oder Professuren Relevanzkriterien sind, die festlegen, dass eine Person für Wikipedia relevant ist. Da kann man sich natürlich fragen, wer diese Preise gewinnt - vor allem, wenn man ein paar hundert Jahre zurückschaut. Ich würde sagen, Wikipedia ist hier ein Abbild einer gesellschaftlichen Realität, die Relevanzkriterien demnach ein Abbild der Verzerrung. Aber die Kriterien sind zum Glück nicht in Stein gemeisselt.
Wird sich Diversität auf Wikipedia mit der Zeit also von alleine einstellen, sobald Frauen auch mehr Nobelpreisträger:nnen sind?
Das ist meine Hoffnung. Der „Spiegel“ hat untersucht, wie sich der Frauenanteil in den Biografien verändert hat und die Personen betrachtet, die in den letzten 100 Jahren geboren worden sind. Aber auch da handeln leider nur 20.3 Prozent aller Biografien von Frauen. Wir müssen also immer noch viel besser werden, denn diese Zahl stimmt nicht gerade optimistisch.
Zum Abschluss etwas Positives: Was fasziniert dich an Wikipedia am meisten?
Wenn ich Wikipedia mit den Tech-Giganten wie Facebook vergleiche, ist die Informationsseite ein absoluter Lichtblick, trotz aller Schattenseiten. Ich schätze die Transparenz. Es ist ersichtlich, wer welchen Eintrag wann gemacht oder abgeändert hat, oder welche Diskussionen stattgefunden haben und welche Entscheide warum gefällt wurden. Die Transparenz auf Wikipedia ist radikal und im System verankert. Auch das auf Spenden basierte Geschäftsmodell ist wegweisend. Diese Spenden erlauben uns, die Unabhängigkeit zu wahren.
Zur Person:Muriel Staub hat den Edit-a-thon gemeinsam mit Patrizia Laeri und Katia Murmann, Leiterin Digital der Blick Gruppe, gegründet. Sie ist ausserdem Präsidentin des Vereins Wikimedia CH.