Wir alle erinnern uns an die unzähligen Stunden, in denen wir als Kinder zerknittertes Spielgeld über das Monopoly-Brett schoben. Die einen waren erleichtert, wenn das Spiel nach einigen Total-Bankrotts endlich wieder für ein Jahr im Schrank verschwand. Die anderen entdeckten ihre grosse Leidenschaft: Investieren, Geld einsacken, Gewinnen.

Dieser spielerische Umgang birgt beim Investieren im Erwachsenenalter Gefahren. Die heutigen Trading-Plattformen machen sich die Psyche von leidenschaftlichen Spieler:innen zunutze. Mit den sogenannten Online-Brokers ist Traden einfacher denn je: Es gibt alles in einer App. Das Design kommt bunt und trendy daher. Das Konzept animiert zum Investieren.

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Online-Brokers
Online-Brokers (oder E-Brokers) bieten Anleger:innen eine Website oder App, mit der sie in verschiedene Anlageklassen wie Aktien, Obligationen, ETFs, Kryptowährungen etc. investieren können. E-Brokers sind meist keine lizenzierte Banken. Sie sind Zwischenhändler, die in Kooperation mit einer Partnerbank stehen, die für sie die Wertpapiere anlegt. Die Auswahl an Finanzprodukten sowie die darauf erhobenen Gebühren variieren dabei stark zwischen den verschiedenen Online-Brokers. (jch)

Nicht selten gestalten Online-Brokers ihre Trading-Plattform mit Elementen aus der Gaming-Welt. Es regnet Konfetti beim Kauf einer Aktie. Eine Push-Mitteilung verkündigt die Auszahlung einer Dividende. Ein Leaderboard listet die User:innen mit der besten Performance. Dieses Einbauen spielerischer Elemente in eine nicht-spielerische Umgebung nennt man Gamification.

Gamification ist ein Trend, der sich branchenübergreifend abzeichnet. Im Allgemeinen soll Gamification die Motivation fördern, etwas spielerisch auszuprobieren – gerade wenn einem die Affinität für das Thema fehlt. Diese ist beim Thema Finanzen insbesondere bei Frauen und jungen Menschen in der Schweiz ziemlich gering. Gewisse Online-Brokers nutzen Gamification also, um genau diesen Leuten den Zugang zum Geldanlegen zu erleichtern. Eigentlich wünschenswert, doch die Sache hat einen Haken.

Joel Chavez
Die ständige Verfügbarkeit der neuen Online-Brokers verleitet insbesondere junge Leute immer häufiger in eine Falle, die sich Daytrading nennt.

Seit der Coronapandemie investieren nicht mehr nur Expert:innen, sondern auch Amateur:innen mit wenig Finanzwissen. So verzeichneten Online-Banken wie Swissquote oder die Saxo-Bank im März 2020 bis zu fünfmal mehr Kontoeröffnungen als in der Vergleichsperiode des Vorjahres. Zusehends drängen neue Online-Broker meist aus den USA nach Europa und erlauben es unerfahrenen Kleinanleger:innen, auch mit nur wenig Budget ins Trading einzusteigen.

Auf einmal ist Investieren günstig, einfach und nur einen Klick entfernt. Die neuen Anleger:innen tätigten mehr Transaktionen und investierten höhere Geldbeträge. Die ständige Verfügbarkeit der neuen Online-Brokers lockt insbesondere junge Leute immer häufiger in eine Falle, die sich Daytrading nennt.


Problemfall Daytrading

Daytrading bezeichnet ein besonders kurzfristiges Handeln an der Börse: ein Kauf und Verkauf innerhalb eines Tages. Es gilt jedoch als unbestritten, dass eine langfristige, breit gestreute Anlagestrategie eine viel bessere Performance erzielt, als zeitaufwendiges, spekulatives Traden. Da Märkte kurzfristig starken Kursschwankungen unterliegen, besteht beim Daytrading ein ernstzunehmendes Risiko, das gesamte investierte Kapital innert kürzester Zeit zu verlieren. Im Gegensatz zu den Trading-Abteilungen von Banken verfügen private Daytraders über keine professionellen Kontrollsysteme, die das Risiko der Investitionen überwachen. Stattdessen verhalten sie sich oft unüberlegt und impulsiv, da sie Kaufentscheidungen schnell und basierend auf wenigen Informationen treffen. 

Britta Thelitz
Die Kriterien für eine Geldspielsuchterkrankung können auch für Daytrading angewendet werden.

«Daytrading kann süchtig machen», warnt Britta Thelitz, fachliche Leiterin Prävention im Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte in Zürich. Zwischen 2018 und 2021 hat sich problematisches Suchtverhalten unter Daytraders verdreifacht, und zwar von 9,9 auf 27,1 Prozent. Dass Daytrading nicht im Geldspielgesetz erwähnt wird, ist laut Britta Thelitz bei einer Diagnose nicht relevant: «Die Kriterien für eine Geldspielsuchterkrankung können auch für Daytrading angewendet werden.»

Tatsächlich aktiviert Daytraden ähnlich wie ein Glücksspiel das Belohnungszentrum in unserem Gehirn: Wenn sich unser Portfolio gerade in einem Tief befindet, scheint es verlockend, in eine riskante Aktie zu investieren, um für einen kurzen Moment das Gefühl von Kontrolle zurückzugewinnen. Das Hirn schüttet das Glückshormon Dopamin aus – auch wenn die Investition in den meisten Fällen unserer langfristigen Performance schadet. «Menschen mit einer Geldspielsuchterkrankung wissen oft, wie ein gutes Risikomanagement aussieht», ergänzt Britta Thelitz, «sie können sich aber aufgrund ihrer Suchterkrankung fast nicht daran halten.»

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Machst du dir Sorgen über dein Trading-Verhalten?
Hier findest du einen Selbsttest, mit dem du herausfinden kannst, ob du oder eine angehörige Person suchtgefährdet ist und was dagegen helfen kann. (jch)

An diesem Punkt wird Gamification zum Problem. Denn Investieren ist kein Spiel ohne reale Folgen. 2021 investierten Schweizer Daytraders im Schnitt 1434 Franken im Monat – ein enormes Verlustrisiko, das sich im Jahr durchschnittlich auf über 17’000 Franken akkumuliert. Gerade einmal 30 Prozent aller Daytraders schreiben nach einem Jahr überhaupt einen Gewinn – nach fünf Jahren ist es noch ein Prozent. In England machten so viele Kleinanleger:innen beim Daytraden Verluste, dass die zuständige Finanzaufsichtsbehörde FCA im Jahr 2019 Daytrading stärker regulieren musste: Plattformen müssen von nun an den Anteil Investor:innen angeben, der beim Traden von komplexeren Finanzinstrumenten wie Derivaten Geld verliert. Bei «eToro» waren das 67 Prozent. Die Warnung hält Daytraders jedoch kaum vom Investieren ab: 45 Prozent von ihnen kaufen trotzdem.

Online-Broker nutzen Gaming-Elemente gezielt auf ihren Plattformen, um das Trading-Verhalten der Investor:innen zu beeinflussen. Ein Beispiel dafür sind individualisierte Push-Mitteilungen. Eine Studie zeigt auf, dass Nutzende nach einer solchen Benachrichtigung nicht nur um ein Vielfaches häufiger investieren – sie nehmen dabei auch ein deutlich höheres Risiko in Kauf. Doch erzielen sie damit wenigstens mehr Rendite? «Nein», sagt eine weitere Studie: Individualisierte Push-Mitteilungen stärken lediglich die eigene Überzeugung – ob diese nun stimmt oder nicht. Fakt ist, dass durch Gamification das gehandelte Geldvolumen im Schnitt um fünf Prozent steigt.

Joel Chavez
Blickt man auf das Phänomen Daytraders, sticht eine Demografie klar hervor: junge Männer.

Fallen wir also alle auf solche Gaming-Elemente rein? Tatsächlich nicht. Der Effekt von Gamification tritt mehrheitlich bei jenen Investor:innen auf, welche besonders empfänglich für diese Anreize sind. Laut Studie sind das vor allem Leute mit geringem Finanzwissen. Blickt man aber allgemein auf das Phänomen Daytraders, sticht eine Demografie klar hervor: junge Männer. Zwei Drittel aller Schweizer Daytraders waren 2021 unter 40 Jahre alt – ein Drittel sogar unter 30. Fast 90 Prozent waren Männer. In Anbetracht dessen, dass viele Daytraders jung sind und noch verhältnismässig wenige finanzielle Mittel haben, ist es besonders kritisch, dass Online-Broker genau diese Gruppe einem so hohen Glücksspiel-Risiko aussetzen und damit viel Geld verdienen.


Geschäftsmodell Anlagesucht


Genau auf eifrige Daytraders zielt das Geschäftsmodell von Online-Brokers. Die meisten von ihnen verlangen für jede getätigte Transaktion eine Gebühr. Dadurch haben Online-Broker ein kommerzielles Interesse daran, ihre Kundschaft zu möglichst vielen Käufen, im besten Fall Daytrading, zu verleiten. Während dieses übermässige, kurzfristige Investieren für die Anleger:innen nachweislich ein hohes Verlustrisiko birgt, steigert sich der Umsatz der Online-Brokers mit jedem Trade. Damit besteht ein grundlegender Interessenskonflikt: Online-Brokers maximieren ihre Einnahmen durch Trading-Gebühren und Gamification, obwohl dies die Rendite ihrer Kundschaft beeinträchtigt.

Joel Chavez
Die Grundprinzipien des Investierens sollte man niemals aus den Augen verlieren.

Perfide, denn gerade Gamification könnte beim Anlegen eine wertvolle Hilfe sein: Plattformen könnten Gaming-Tools auch dazu nutzen, Anleger:innen für langfristigere, nachhaltigere und breiter gestreute Investitionen zu sensibilisieren. Bei Verdacht auf eine Trading-Sucht könnten sie eine Warnung verschicken oder einen Account gar sperren. Einige Schweizer Trading-Plattformen wie Swissquote oder Cornèrtrader bieten immerhin Simulationen an, anhand derer sich User:innen spielerisch und ohne Folgen mit dem Investieren vertraut machen können. Erst dann entfaltet Gamification ihre wahre Superkraft.


Unabhängig von den verschiedenen Plattformen, Tools, Geschäftsmodellen, ja selbst der Menge Konfetti, die einem beim Aktienkauf entgegenfliegt – die Grundprinzipien des Investierens sollte man niemals aus den Augen verlieren. Falls du einen kleinen Reminder brauchst, findest du die Grundprinzipien auf unserer Website.


Nach heftiger Kritik hat der Online-Broker «Robinhood» den bekannten Konfetti-Regen übrigens wieder von seiner Plattform entfernt. Damit hat selbst das grosse amerikanische Unicorn seinen Zauber überraschend schnell wieder verloren.

Die wichtigsten Begriffe rund ums Investieren
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