Was in Japan, Taiwan, Südkorea oder Indonesien längst üblich ist, wird nun auch in Europa aufgegriffen – der sogenannte Menstruationsurlaub. Vor einem Jahr hat Spanien einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der eine erleichterte Krankschreibung für Menschen mit starken Menstruationsbeschwerden vorsieht.
Tabuthema Menstruation kostet Unternehmen Milliarden
Ana-Sophia Almeida-Dehesa befürwortet diese Entwicklung. Als Mitgründerin von «Vision Period» befasst sie sich schon seit knapp zwei Jahren damit, wie Unternehmen den Arbeitsalltag für Arbeitnehmer:innen zyklusgerechter gestalten können. Die angehende Ärztin und Entrepreneurin sagt: «In den letzten Jahren haben Unternehmen viel unternommen, damit es Mitarbeiter:innen am Arbeitsplatz gut geht und damit sie gesund bleiben. Die Angebote reichen von Yogastunden bis zu Ernährungsberatungen, das Thema Zyklus wird aber noch zu wenig beachtet.»
Für Almeida-Dehesa ist das ein Grund, weshalb sich viele menstruierende Menschen am Arbeitsplatz nicht wohlfühlen. Eine Umfrage aus den Niederlanden mit über 30'000 Teilnehmer:innen zeigt auf, dass sich 80 Prozent der Befragten während der Menstruation lieber kraftlos zur Arbeit schleppen, als offen ihre Bedürfnisse nach Rückzug und Ruhe zu kommunizieren. Hinzu kommt, dass jede zehnte Frau unter der Krankheit Endometriose leidet, die sehr starke Regelschmerzen zur Folge hat. Die Schmerzen und das Unwohlsein führen dazu, dass menstruierende Personen weniger effektiv arbeiten können. Eine Studie von A.T. Kearny berechnet, dass die fehlende Auseinandersetzung mit dem Thema Menstruation und der daraus folgende Produktivitätsverlust Unternehmen in der EU jährlich 100 Milliarden Euro kosten.
Zyklusbildung soll Umdenken bewirken
Hier kommt das Start-up Vision Period ins Spiel. Almeida-Dehesa und ihr Team bieten in Unternehmen Workshops an, in denen Bewusstsein für den weiblichen Zyklus geschaffen wird. Sie sagt: «Ich bin überzeugt, dass wir nur dann gute Arbeit leisten können, wenn wir unsere Bedürfnisse kennen und nicht über unsere Grenzen hinausgehen.» Deshalb sei es im ersten Schritt wichtig, dass Arbeitnehmer:innen zum Thema Zyklus aufgeklärt werden. «Wir stellen in unseren Workshops immer wieder fest, dass sich viele Frauen erst beim Thema Kinderkriegen mit ihrem Zyklus auseinandersetzen. Das ist schade, denn im Zyklus steckt auch eine Superkraft.»
Almeida-Dehesa erklärt, dass der weibliche Zyklus nicht nur auf die Menstruation reduziert werden sollte, sondern auf die gesamten 28 bis 32 Tage. «Es gibt auch Phasen im Zyklus, in denen Frauen viel produktiver arbeiten und selbstbewusster auftreten können. Diese Phasen zu spüren, kann ein wahrer Game Changer für Betroffene sein», sagt sie.
Bedürfnisse kommunizieren statt verheimlichen
In den Workshops von Vision Period nehmen nicht nur menstruierende Menschen teil, sondern das ganze Team. Dies sei wichtig, um das Tabuthema Zyklus und Menstruation aufzubrechen und damit Mitarbeiter:innen lernen, offen und selbstverständlich über ihre Bedürfnisse zu sprechen. Die Entrepreneurin sagt: «Die heutige Arbeitswelt mit ihren Arbeitszeiten und Pausen ist auf den hormonellen Zyklus von Männern abgestimmt, der 24 Stunden dauert. Darunter leiden aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer, die beispielsweise psychische Probleme haben.»
Die Bildung zu diesen Themen sei essenziell, damit im Anschluss Massnahmen erarbeitet werden können, die ein inklusives und zyklusgerechtes Arbeitsumfeld ermöglichen: «Im ersten Schritt können Unternehmen beispielsweise eine Rückzugsmöglichkeit am Arbeitsplatz schaffen. Eine andere Option sind Homeoffice-Tage sowie flexible Arbeitstage oder eben Tage, an denen Mitarbeitende mit Menstruationsbeschwerden ganz von der Arbeit befreit werden.»
Menstruationsurlaub passt ins alte System
Die Diskussion rund ums Thema Menstruation im Arbeitsalltag irritiert Gudrun Sander. Die Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversity und Inklusion an der Universität St. Gallen sagt: «Für mich passt der Menstruationsurlaub ins Gedankengut einer veralteten Arbeitswelt mit starren Arbeitsstrukturen, Präsenzzeiten und Hierarchien. Menstruationsurlaub klingt so fortschrittlich – ist aber eigentlich retro!»
Aus Sicht von Sander müsste generell hinterfragt werden, ob die jetzigen Arbeitsmodelle noch zeitgemäss sind: «Die heutige Arbeitswelt ist gemacht für vollzeiterwerbstätige Ernährer-Männer. Für viele Arbeitnehmer:innen passt dieses System nicht. Statt Sonderlösungen zu entwickeln für diejenigen, die nicht reinpassen, sollten wir Arbeitsmodelle gestalten, die möglichst vielen dienen.»
Alle Menschen brauchen Verständnis
Aus Sicht von Sander hat die Diskussion rund ums Thema Menstruation im Arbeitsalltag aber noch einen weiteren Haken: «Wir bedienen damit dieses Narrativ der biologiegesteuerten Frau. Wir müssen uns fragen, wem dieser Diskurs tatsächlich dient.» Laut Sander bestehe die Gefahr, dass solche Diskussionen rund um einen zyklusgerechten Arbeitsalltag das Bild der defizitären Frau wiederbeleben, die nicht leistungsfähig ist und keine verantwortungsvollen Positionen wahrnehmen kann.
Sander wünscht sich deshalb vor allem Unternehmenskulturen, in denen Verständnis für alle aufgebracht wird: «Alle Menschen brauchen Verständnis. Aus meiner Sicht ist es irrelevant, ob wir Verständnis aufgrund der Menstruation brauchen oder aufgrund einer schlaflosen Nacht wegen kranker Kinder zu Hause.»
Vertrauenskultur und flexible Arbeitsmodelle
Sander hält deshalb starre Arbeits- und Präsenzzeiten unabhängig vom Thema Menstruation für überholt. Sie beobachtet seit der Coronapandemie bereits einen Wandel bei vielen Firmen, der mehr Flexibilität für die Mitarbeiter:innen herbeiführt. «Dies wiederum bedeutet aber, dass wir auch Führung überdenken müssen, denn Flexibilität bedeutet mehr Aufwand, und vor allem eine Notwendigkeit für mehr Vertrauen», so die Expertin.
Wichtig sei es, dass Unternehmen einen Mittelweg finden würden. «Flexibilität darf nicht zu Unproduktivität führen. Beispielsweise können Teamtage, an denen alle Mitarbeiter:innen vor Ort sind, Aufgabenteilung und Übergaben erleichtern», sagt Sander. Insgesamt überwiegen aber aus ihrer Sicht die Vorteile von flexiblen Arbeitsmodellen nicht nur für die Arbeitnehmer:innen, sondern auch für Firmen: «Wenn Mitarbeiter:innen ihre eigenen Ressourcen besser einteilen können, sind sie produktiver. Zudem wird es für Unternehmen, die an starren Arbeitszeiten festhalten, künftig schwierig werden, junge Talente zu gewinnen.» Diverse Studien bestätigen, dass junge Menschen der Generation Z nach mehr Individualität und Flexibilität streben.