«Eine Chefarztposition allein konnte ich mir nie vorstellen», sagt Natalie Gabriel. «Eine Co-Leitung ist eine Bereicherung und auch eine Entlastung» ergänzt Stephanie von Orelli. Gemeinsam führen die Ärztinnen seit vier Jahren die Frauenklinik des Zürcher Stadtspitals Triemli. Beide engagieren sich mit Herzblut für die Medizin – eine Position ohne operative Tätigkeiten kam für sie nie in Frage. Dies war der Hauptbeweggrund für eine gemeinsame Klinikleitung, die ein hohes Mass an administrativen Aufgaben mit sich bringt.
Kompetenzverlust bei Teilzeitstellen
Noch sind solche Doppelbesetzungen an der Spitze selten in der Schweiz, nicht nur in der Spitalwelt. Für Irenka Krone, Geschäftsführerin des Vereins PTO, Part-Time Optimisation, ist das verwunderlich. Aus ihrer Sicht eignet sich der Schweizer Arbeitsmarkt ausgezeichnet für solche Modelle: «In fast keinem anderen Land gibt es so viele Teilzeitangestellte wie in der Schweiz.» Zurzeit arbeiten hierzulande 60 Prozent der Frauen und 18 Prozent der Männer Teilzeit.
Zwar lassen sich Beruf und Familie dadurch besser vereinbaren, doch nur wenige leitende Positionen sind in kleineren Pensen möglich. Krone erklärt: «Das Risiko eines Kompetenzverlustes ist gerade bei gut ausgebildeten Arbeitskräften in Teilzeitbeschäftigung hoch. Dies führt unter anderem dazu, dass 50'000 hochausgebildete Frauen in der Schweiz keiner Erwerbstätigkeit nachgehen.» Für die Expertin ist das eine ökonomische Verschwendung von Humankapital.
Mir vier Augen zu besseren Lösungen
Von Orelli und Gabriel haben sich die Co-Leitung der Frauenklinik anfangs im 70:70 Pensum geteilt. In der Zwischenzeit haben jedoch beide ihr Pensum auf 90 Prozent hochgeschraubt – die klinischen Tätigkeiten wären sonst zu kurz gekommen neben all den administrativen Aufgaben. Trotz eines freien Wochentages sei das Engagement für die Stelle sehr hoch, betonen beide. «Wir sind in einer sehr verantwortungsvollen Position, und wenn wichtige Entscheidungen anstehen, sind wir selbstverständlich auch an unserem freien Tag erreichbar», sagt von Orelli. Gabriel ergänzt, dass Topsharing nicht nur ein Teilzeitmodell sei. «Topsharing ist eine andere Art von Führung, die nicht an eine Person gebunden ist. Wir könnten dies auch im 100:100-Pensum tun.» Die Vorteile des Arbeitsmodells gehen deshalb aus ihrer Sicht über die Verbesserung der Work-Life-Balance hinaus.
Besonders wertvoll sei, dass sie eine Kollegin auf Augenhöhe haben, die sie bestärkt, aber auch herausfordert. Die Co-Leiterinnen erleben immer wieder Situationen, die sie ganz unterschiedlich beurteilen. Für von Orelli sind diese sehr wertvoll: «Wenn man Perspektivenwechsel eingehen kann, führen Reibereien zu sehr guten Lösungsansätzen. Es ist nicht nur additiv, sondern potenzierend, wenn zwei Chefinnen gemeinsam führen.» Damit dies funktioniere, sei aber die Bereitschaft wichtig, die eigene Meinung mit jemandem zu spiegeln.
Fachlich sind sich die Ärztinnen sehr ähnlich; beide haben sich auf die gynäkologische Onkologie spezialisiert. Auch menschlich würden sie ähnlich ticken, zumindest teilen sie fundamentale Werthaltungen. Gabriel erklärt: «Wir haben nicht den Anspruch, dass wir uns gegenseitig so gut ergänzen, dass wir die perfekte Führungsfigur abgeben und es sonst niemanden mehr braucht. Wir ergänzen uns aber situativ sehr gut, beispielsweise in Stresssituationen.»
Die neuen Generationen stört Machtgehabe
Vom intensiven Austausch eines Spitzenduos würden auch Unternehmen profitieren, betont Expertin Krone. Denn dieser führe zu ausgereifteren Entscheidungen und einem höheren Innovationspotenzial. Eine weitere wertvolle Ressource fürs Unternehmen sei das Netzwerk, das beide Personen in die Führungspositionen einbringen.
Daneben sei das Topsharing-Modell auch sehr zeitgerecht. Krone betont: «Die Führungskräfte der Generationen Y und Z verlangen oft mehr Flexibilität und haben nicht diesen alleinigen Machtanspruch.» Insofern sieht sie das Modell auch als Mittel für Talentbindung und -motivation. Leider fehle es aber in der Schweiz noch an HR-Ausbildungen, die solche Modelle lehren. Schliesslich brauche es für Topsharing auch Spezialisten, die mit Rekrutierungsverfahren bei Duos vertraut sind und die technischen Modalitäten dieses Arbeitsmodelles kennen.
Der Verein PTO berät Unternehmen, die sich für Topsharing-Modelle interessieren. Das Angebot kommt an: «Wir erhalten sehr viele Anfragen, insbesondere von Konzernen und Unternehmen aus dem öffentlichen Sektor». Insbesondere in staatsnahen Betrieben wird das Modell bereits eingesetzt: Sowohl das Reisezentrum der SBB als auch das Innovationsteam von PostMail wird von Frauen im Topsharing geführt. Die Expertin merkt an, dass sich das Modell insbesondere im Dienstleistungssektor zu etablieren beginnt. «Aus meiner Sicht lässt sich Topsharing da auch am einfachsten umsetzen, da die Zusammenarbeit auch virtuell erfolgen kann und das Umfeld eher agil ist.»
Vor allem kleinere KMUs würden dem Modell kritisch gegenüberstehen, bemerkt Krone. Oft hätten sie Bedenken, dass sich Topsharing finanziell nicht lohne. Dem entgegnet sie: «Die Kosten sind insgesamt nicht viel höher als bei normalen Teilzeitstellen.» Zwar würden höhere Fixkosten anfallen, beispielsweise für zwei Arbeitsbereiche oder Ausbildungen. Danach aber könne Topsharing viele Kosten einsparen: Duos brauchen meistens keine Stellvertretungen mehr, die durchgängige Präsenz im Unternehmen könne gewährleistet werden, und die gesamte Produktivität nehme dank zweier reduzierten Pensen zu. Allerdings sei es für kleinere KMUs schwieriger, Topsharing-Modelle zu etablieren, weil ihnen meistens entsprechende HR-Spezialist:innen und Coaching-Tools fehlen.
Topsharing ist kein Selbstläufer
Das Topsharing-Modell ist aber auch in grösseren Betrieben kein Selbstläufer. Von Orelli und Gabriel haben sich mithilfe einer professionellen Trainerin auf die gemeinsame Stelle vorbereitet. Im Vorfeld wurde so festgelegt, wie die Ressorts aufgeteilt werden, welche Werte den beiden wichtig sind und wie kommuniziert wird. Dies gab den Ärztinnen eine Sicherheit und ein gutes Gefühl für den Start in der Co-Leitung.
Trotz guter Vorbereitung haben sich nicht alle Abmachungen bewährt. Eine klare Aufteilung der Ressorts sei in Realität schwierig, erklären die Ärztinnen. «Mit der Zeit haben wir gemerkt, dass wir die Aufteilung auf Projektebene vornehmen müssen, je nachdem, wer gerade Kapazitäten hat», sagt Gabriel. Auch mussten die Chefinnen erfahren, dass Co-Leitung nicht immer bedeutet, dass beide die gleichen Informationen haben. Von Orelli erklärt: «Wir haben zweimal wöchentlich eine Sitzung, wo wir uns austauschen und alles Wichtige auf eine Pinnwand schreiben. Es ist wichtig, dass wir gegenseitig Feedback einholen, aber gleichzeitig auch akzeptieren, dass nicht immer alles kommuniziert werden muss.»
Gabriel betont, dass das Umfeld für ein erfolgreiches Topsharing eine wichtige Rolle spiele. Einerseits müsse das Team eine Co-Leitung akzeptieren und unterstützen. «Sobald wir gegeneinander ausgespielt werden, so wie beim Mami-Papi-Spiel, dann wird es schwierig», sagt sie schmunzelnd. Andererseits sei es aber auch wichtig, dass die Spitalleitung, andere Kliniken oder das HR die Co-Leitung akzeptieren würden. «Wir erleben es immer wieder, dass nur eine von uns angeschrieben wird bei wichtigen Fragen. Es braucht auch eine Grosszügigkeit von uns, dass wir dies nicht persönlich nehmen», sagt Gabriel. Von Orelli ergänzt, dass sie diese Nachlässigkeiten im System im Team ausgleichen müssen. «Wenn eine von uns nicht angeschrieben wird, muss es selbstverständlich sein, dass wir uns intern informieren. Das Vertrauensverhältnis ist sehr wichtig.»
Grosszügigkeit, Flexibilität, Vertrauen – für ein effektives Topsharing sind viele Qualitäten und das richtige Gegenüber gefragt. Wer sich auf die Suche nach einem Topsharing-Partner machen möchte, kann dies beispielsweise auf der Plattform des Vereins PTO tun.