„Wir brauchen für diese Stelle im mittleren Kader eine unternehmerisch denkende Persönlichkeit, die gerne Verantwortung übernimmt. Mir ist wichtig, dass Sie in dieser zweiten Gesprächsrunde vor allem nochmals die wichtigsten Führungsqualitäten wie Entscheidungskraft und Durchsetzungsvermögen abklopfen. Ich werde mich zunächst im Hintergrund halten und Sie sprechen lassen, in Ordnung?“ Kallert, seines Zeichens CEO der Sattler Schweiz AG, wirft einen Blick auf die Uhr „und bitte nicht länger als 50 Minuten, ich bin mit Coning zum Lunch verabredet.“
„Alles klar, das sollte reichen. Die zweite Kandidatin heute ist dann erst wieder um 14.30 Uhr hier.“ Netter, seit drei Jahren Leiter Personal der Sattler Schweiz AG, weiss, dass Kallerts Mittagspause heilig ist.
„Zwei Frauen heute?“
„Richtig. Nach den neuen Diversity Richtlinien der Sattler Gruppe sollte mindestens ein Drittel der Interviewten weiblich sein und gestern hatten wir nur männliche Kandidaten hier.“
„Mhhm. Nur für den Fall, dass Sie morgen noch einen behinderten Afrikaner und einen transsexuellen Asiaten zum Gespräch eingeladen haben - ich bin ausser Haus.“
Netter sieht Kallert leicht irritiert an, so dass dieser anfügt: „Spass beiseite, fangen wir an.“
Als Andrea das Sitzungszimmer betritt, lächelt Netter freundlich und lädt sie ein, Platz zu nehmen. Kallert ist noch mit seinem Mobile beschäftigt.
Netter dankt Andrea für ihr Kommen und bittet sie, sich Kallert, der beim ersten Interview noch nicht dabei war, kurz vorzustellen.
Andrea bedankt sich für die erneute Einladung und fasst kurz zusammen, weshalb sie ihr betriebswirtschaftliches Studium mit Vertiefung Logistik, ihr MBA in Supply Chain Management, ihre jahrelange Tätigkeit für die Deutsche Post DHL Gruppe, zuletzt mit einer Gesamtverantwortung für die Abteilungen Verladung, Verpackungsmaterial- sowie Leerpaletten-Logistik und insgesamt 160 Mitarbeiter, perfekt für die zu besetzende Stelle als Leiterin Logistik qualifiziert.
Kallert hat nun sein Mobile zur Seite gelegt und hört ebenfalls zu.
„Was würden Sie nach dem Stellenantritt bei Sattler als Erstes tun?“
„Als Erstes würde ich den Waren- und Informationsfluss analysieren und sehen, wie sich die Betriebsprozesse, insbesondere mittels neuester Technologien, optimieren lassen. Ein besonderes Augenmerk würde ich dabei auf die Verbesserung der operativen Schnittstellen zu anderen Funktionen innerhalb der Supply-Chain-Organisation legen, da diese erfahrungsgemäss am anfälligsten für Verzögerungen sind.“
Nach ein paar weiteren industriespezifischen Fragen, die Andrea alle souverän beantwortet, schwenkt Netter auf den Bereich Führung um. Er lässt Andrea zunächst darlegen, wie sie mit schwierigen Mitarbeitern umgeht und stellt ihr dann die Standardfrage:
„Wie würden Sie ihren Führungsstil beschreiben?“
„Mir ist wichtig, dass zwischen meinen Mitarbeitern und mir eine offene Kommunikation und ein gutes Klima herrscht, das auf gegenseitigem Respekt beruht. Ich vermittle dem Team Strukturen, biete aber jedem einzelnen Mitarbeiter die Möglichkeit, sich mit seinen Vorschlägen einzubringen und zu verbessern. Dabei versuche ich nicht nur Führungskraft, sondern auch Impulsgeber und Coach zu sein. Wenn es nötig wird, kann ich aber auch durchgreifen.“
„Das ist interessant. Wie verschaffen Sie sich denn als Managerin Respekt?
„Meine Mitarbeiter respektieren mich, weil ich eine klare Linie habe und Entscheidungen konsequent umsetze. Meine Entscheidungen sind dabei immer gut durchdacht und entweder mit dem Team vorbesprochen oder diesem ausführlich erklärt worden. Weiter denke ich, dass ich dafür geachtet werde, dass ich in Krisensituationen einen kühlen Kopf bewahre und stets ein offenes Ohr für die Anliegen meiner Leute habe.“
Auch das weitere Interview läuft sehr gut, Netter macht sich fleissig Notizen und nickt Andrea begeistert zu.
Diese ist gedanklich schon langsam beim Zusammenräumen ihrer Unterlagen, als Kallert unvermittelt fragt: „Wie sieht es eigentlich mit Ihrer Familienplanung aus. Möchten Sie Kinder?“
Andrea hält einen Moment inne, bevor sie mit einem Lächeln antwortet: „Wieso fragen Sie, ist das Voraussetzung für die Stelle oder möchten Sie Ihre loswerden? Kallert stutzt zwar kurz, setzt dann aber gleich noch einen drauf.
„Und würde es Sie eigentlich nicht stören, als Quotenfrau des mittleren Managements von Sattler zu gelten?“
Andrea erklärt geduldig: „Nein, das würde mich nicht stören. Glauben Sie denn, dass es den Mann, dem Sie trotz meiner Qualifikationen den Vorzug vor mir geben würden, weil Ihnen Männer einfach souveräner erscheinen, weil Sie sich vom Golfclub kennen oder weil Sie sich Frauen in Führungspositionen schlicht nicht vorstellen können, an diesem Umstand stören würde?“
Drei Sekunden lang ist es so still, dass man eine Stecknadel fallen hören würde, bevor Netter das Gespräch mit knappen Ausführungen zu den nächsten Schritten abschliesst. Als sich Andrea verabschiedet, ist Kallert bereits wieder in seine E-Mail-Korrespondenz vertieft.
Wie von Netter befürchtet, fällt das Debriefing kurz und vernichtend aus. Kallert kann seinem Team keine Emanze mit Haaren auf den Zähnen zumuten; ausserdem wartet Coning.