Über einen Monat lang hat sich Qistina auf dieses Plädoyer vorbereitet. Sie kennt sämtliche Akten des Falles, hat alle Eingaben nochmals gelesen, jedes Sachverständigengutachten und jede Zeugenaussage studiert und die Strategie der Gegenseite im Detail analysiert. Die gesamte letzte Woche hat sie nur noch an der Perfektionierung ihres Vortrages gearbeitet, den Aufbau nochmals leicht umgestellt und an den letzten Formulierungen geschliffen. Nun sitzt jeder Satz, jede Kunstpause.
Ihre unzweifelhaft perfekte Vorbereitung und der Umstand, dass dies nicht der erste Auftritt dieser Art ist, ändert nichts daran, dass Qistina leichte Magenkrämpfe hat, als sie das moderne Gerichtsgebäude in Strassburg betritt.
Das enorme Medieninteresse, das der Fall, aber auch ihre Person auslöst, seit sie mit Sean liiert ist, hilft da natürlich nicht. Sean ist gerade auf einem Set in Südafrika, hat sie heute Morgen aber noch angerufen und ihr viel Erfolg gewünscht. Sie haben sich die vergangenen Wochen kaum gesehen, weil er in Kapstadt drehte und sie unter ihren Akten begraben war. Umso mehr freut sich Qistina auf das nächste Wochenende, an dem sie sich endlich wiedersehen werden.
Dies geht Qistina durch den Kopf, als sie ihre Notizen bündelt und noch einen Schluck Mineralwasser nimmt. Dann wird sie ans Rednerpult gerufen.
Die minutiöse Vorbereitung und all die Entbehrungen der letzten Wochen haben sich gelohnt. Qistina brilliert mit einem knapp stündigen, druckreifen Plädoyer. Sie trägt ihre stichhaltigen Argumente flüssig und mit der richtigen Dosis Emotionalität vor. Als sie ihre Replik auf das Plädoyer der Gegenseite beendet, ist offensichtlich, dass Qistina die Grosse Kammer überzeugt hat.
Man merkt ihr deutlich an, dass ihr nicht nur der konkrete Fall, sondern auch das ihm zugrunde liegende Thema persönlich am Herzen liegt und sie sich der Tragweite des zu erwartenden Entscheides bewusst ist. Seit Jahren beschäftigt sich Qistina mit Menschenrechtsverletzungen an Frauen unter islamischem Recht, aber dies ist ein besonders grausamer Fall von gewaltsamer Unterdrückung, der sich dafür eignet, einen Grundsatzentscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu erwirken.
Als der Präsident die Verhandlung schliesst und sich die Richter zur nichtöffentlichen Beratung zurückziehen, weiss Qistina, dass für sie die Arbeit noch nicht abgeschlossen ist. Sie packt ihre Unterlagen zusammen, wirft sich ihr Cape über, einen prüfenden Blick in ihren Handspiegel und macht sich auf den Weg zum Ausgang.
Dort wird sie vom Blitzlichtgewitter der Fotografen und einer Schar Journalisten, die ihr ihre Mikrophone entgegenstrecken und sie mit Fragen bombardieren, empfangen. Gewohnt souverän lächelt Qistina in die Kamera und beantwortet geduldig alle Fragen. Über den Prozess, ihre Einstellung zur Scharia, ihre Tätigkeit als Anwältin und – etwas zurückhaltender - ihre Beziehung zu Sean.
Der leise einsetzende Nieselregen ist eine willkommene Gelegenheit für Qistina, sich charmant von der Presse zu verabschieden und ein Taxi zu rufen. Erst als der Wagen zweimal abgebogen ist, erlaubt sie sich, ins Lederpolster zu sinken und laut zu seufzen. Es ist geschafft.
Im Hotel angekommen merkt Qistina, wie erschöpft sie ist. Sie lässt sich ein heisses Bad einlaufen und ordert einen Burger mit Pommes beim Zimmerservice. Nach einem kurzen Telefonat mit Sean – die Zeitverschiebung zwischen Strassburg und Kapstadt beträgt zum Glück nur zwei Stunden – legt sich Qistina bereits um 21 Uhr schlafen.
Dies und ihre gespannte Vorfreude auf die gute Presse nach ihrem gestrigen Erfolg, lässt sie bereits um 6 Uhr wieder erwachen. Was wohl besonders hervorgehoben wird? Ihre enorme Aktenkunde, ihre gewandte Rhetorik oder die völlig neue Argumentationslinie, mit der sie bewusst ein gewisses Risiko einging, welche aber offensichtlich überzeugte?
Da es wohl noch zu früh ist, an der Reception nach ein paar Tageszeitungen zu fragen, fährt Qistina ihr Laptop hoch und wählt sich ins Hotel-WLAN ein. Eine Google-Suche nach ihrem Namen unter News liefert rasch verschiedenste Treffer. Qistina klickt den ersten an:
„Zur gestrigen Verhandlung in Strassburg trug die prominente Rechtsanwältin Qistina Moore einen Tweed-Zweiteiler von Chanel Vintage, der durch die aufgesetzten Perlen-Knöpfe besonders elegant wirkte. Als farblicher Gegensatz zu ihrem dunklen Haar wurden das elfenbeinfarbene Jäckchen und der schmal geschnittene Bleistiftrock zum absoluten Hingucker. Insbesondere auf den zweiten Blick: Zeichnet sich da ein leichtes Bäuchlein unter dem edlen Stoff ab? Schon lange wird gemunkelt, dass Sean Moore und Qistina Nachwuchs erwarten. Die aktuellen Bilder zeigen, dass an diesen Gerüchten durchaus etwas dran sein könnte.“
Inspiriert von „Amal Clooneys Kleider“; Nach Amal Clooneys Vertretung einer Kronzeugin gegen den Islamischen Staat vor der UNO in New York beschränkten sich die Berichterstattungen auf ihr schickes Etuikleid.