Neben messbaren Gender Gaps gibt es in der Politik viele versteckte Exemplare – einige davon fielen mir im Vorfeld der Bundesratswahlen letzte Woche auf. Abgesehen von den beiden offiziellen SP-Kandidatinnen, den Ständerätinnen Elisabeth Baume-Schneider und Eva Herzog, gab ein Mann viel zu reden. Weil er unbedingt Bundesrat werden wollte. Und zwar gegen den Willen seiner Partei, die sich neben Alain Berset eine Frau in der Regierung wünschte. In der Wandelhalle liess der intern abgeblitzte SP-Ständerat Daniel Jositsch durchblicken, dass er eine Wahl dennoch annehmen würde. Ich fragte einen seiner Supporter, warum er denke, dass Jositsch führen könne – schliesslich habe er keine Regierungserfahrung, während die beiden offiziellen Kandidatinnen ihre Führungsqualitäten als Regierungsrätinnen während fünfzehn, beziehungsweise zwölf Jahren unter Beweis gestellt hatten. Der bürgerliche Nationalrat wirkte erstaunt. Das habe er sich noch gar nicht überlegt. Aber er kenne Jositsch halt aus einer Kommission – und dieser habe Militärerfahrung, solche Leute könnten Sitzungen führen! Jositsch holte im ersten Wahlgang 58 Stimmen.

Nathalie Christen
Das aktuelle Beispiel zeigt exemplarisch, wo versteckte Gender Gaps liegen: In der Vernetzung, in der Erwartungshaltung und bei einem Selbstbewusstsein, von dem die meisten Frauen nur träumen können!

Das aktuelle Beispiel zeigt exemplarisch, wo versteckte Gender Gaps liegen: In der Vernetzung, in der Erwartungshaltung und bei einem Selbstbewusstsein, von dem die meisten Frauen nur träumen können!

Mehr Müsterchen gefällig?

Bei den Gesprächen für unser Buch «Schweizer Politfrauen – 21 Porträts, die inspirieren» haben wir Co-Autorinnen unzählige versteckte Gender Gaps erzählt bekommen. Hier ein paar Beispiele – und Tipps, wie frau damit umgehen kann. Denn: Je mehr sich der Männer- und der Frauenanteil angleichen, desto kleiner werden auch die versteckten Gaps. Weil sich die Kultur des Miteinander ändert und die Entscheide verstärkt auch weibliche Sichtweisen berücksichtigen.

Gender Gap Erwartungshaltung: Während einige wie bereits erwähnt von Männern nur schon aufgrund ihrer Erfahrungen im Militär Qualität erwarten, schlugen FDP-Nationalrätin Petra Gössi, als sie erstmals in den Schwyzer Kantonsrat gewählt wurde, ganz andere Erwartungen entgegen: Ein bürgerlicher Kollege sagte ihr, nun freue er sich auf selbst gebackenen Kuchen in den Pausen. «Das war nicht bös gemeint», sagt Gössi im Buch dazu. «Aber unsere Lebenswelten sind sehr unterschiedlich. Wie soll jemand mit diesem Hintergrund zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter verstehen? Darum sind mehr Frauen in der Politik so wichtig. Gemischte Teams sehen mehr auf ihrem Radar.» Gössi bekam zudem zu hören, sie sei nur wegen ihres bekannten Vaters – sehr umtriebig im lokalen Brauchtum – gewählt worden. Sie empfiehlt die Haltung: «Kann sein oder auch nicht. Mir ist das egal. Ich mach das jetzt einfach mal.»

Gender Gap Sexismus: Die grüne Tessiner Nationalrätin Greta Gysin hatte als Grossrätin Sextoys im Briefkasten, in Erotikzeitschriften tauchten Kontaktanzeigen in ihrem Namen auf. Gysin holte sich moralische Unterstützung bei der Grossratspräsidentin. «Ich verstand, dass nicht ich das Problem war, sondern die schlichte Tatsache, dass ich eine Frau bin.» Die Berner SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler bekam Penisfotos, dazu Morddrohungen. Als ehemalige Polizistin liess sie sich davon aber nicht beeindrucken. Sie schaltete die Polizei ein und erklärte ihrem beunruhigten Mann, wenn einer schreibe, er könne sie finden, sei er kaum sehr intelligent – ihre Adresse finde man ja mit wenigen Klicks im Internet.

Nathalie Christen
Jedes Kind hat zwar auch einen Vater. Doch in der Realität bekommen noch immer vor allem Frauen die Last der Verantwortung zu spüren, sogar in partnerschaftlichen Modellen.

Gender Gap Vereinbarkeit mit der Familie: Jedes Kind hat zwar auch einen Vater. Doch in der Realität bekommen noch immer vor allem Mütter die Last der Verantwortung zu spüren, sogar in partnerschaftlichen Modellen. GLP-Nationalrätin Corina Gredig teilte sich die Betreuung des Babys mit ihrem damaligen Mann, wenn es nicht in der Kindertagesstätte war. Doch während sie schräg angeschaut wurde, wenn sie zu Stosszeiten mit dem Kinderwagen im öffentlichen Verkehr unterwegs war, erntete er fürs Gleiche bewundernde Blicke. Er bekam auch Lob für seinen «Papitag» neben seinem hohen beruflichen Pensum. Während sie Kritik erntete, weil sie neben ihrem «Mamitag» ebenso zeitaufwändig studierte und arbeitete.  «Zur Feministin», sagt Gredig, «wurde ich durch die Mutterschaft.» Andere Betreuungsmodelle: Eva Herzog und ihr Partner engagierten eine Nanny, während sie Basler Regierungsrätin war. Die Grüne Manuela Weichelt liess sich als Zuger Regierungsrätin ihr Baby von ihrem Mann zum Stillen ins Rathaus bringen – auch während Regierungssitzungen. Bei der Mitte-Gemeindepräsidentin Claudia Bernet-Bättig war der Mann, ein Bauer, für die vier Kinder erreichbar, wenn diese einander nicht gegenseitig helfen konnten. «Gemeindepräsidentin ist eine ideale Stelle für eine Mutter, weil Flexibilität möglich ist. Und es macht die Kinder selbständiger.»

Gender Gap Perfektionismus: Frauen stellen tendenziell höhere Ansprüche an sich selbst. Überspitzt gesagt: Männer sind fürs Interview bereit, noch bevor sie das Thema kennen, während Frauen sich das nur nach intensivster Vorbereitung zutrauen. Das lässt sie öffentliche Auftritte fürchten, das hindert viele am Gang in die Politik. Zwei Tipps der Porträtierten sind mir besonders geblieben. Zum einen derjenige von Mitte-Bundesrätin Viola Amherd: «Wir Frauen brauchen nicht perfekt zu sein. Statt dauernd an sich zu zweifeln, sollten Frauen sich ihrer Stärken bewusst sein und sie nutzen. Den Rest kann man lernen.» Und zum andern der Tipp von SVP-Nationalrätin und Unternehmerin Diana Gutjahr: «Wagt mal etwas, was zu gross erscheint – aber in das ihr hineinwachsen könnt!»

Für mich war dieses Buch ein solches Wagnis. Wir wollten mit Beispielen und Tricks, die auch fürs Berufsleben taugen, zeigen, dass frau Politik kann! Es soll auf unterhaltsame Weise inspirieren. Unterdessen übrigens unter dem Titel «Engagées!» auch in der Westschweiz. Nur wer wagt, kann auch gewinnen. In der Politik und ausserhalb!

Leserinnen von elleXX können das Buch «Schweizer Politfrauen – 21 Porträts, die inspirieren» von Nathalie Christen, Linda Bourget und Simona Cereghetti vom 14. Dezember bis am 21. Dezember für 31.00* statt 39.00 beziehen. Bestellungen bitte an edition@beobachter.ch senden mit dem Vermerk «elleXX».

*Preise inkl. MwSt., zzgl Versandkosten von CHF 6.90 (A-Post), kostenloser Versand ab CHF 50.–.

Nathalie Christen ist Bundeshauskorrespondentin von Fernsehen SRF, moderierte die letzten Bundesratswahlen und präsentiert seit 13 Jahren auch die SRF-Präsident:innenrunden an Abstimmungssonntagen. Sie wurde 2020 zur Politikjournalistin des Jahres gewählt. Früher leitete Christen die Bundeshausredaktion von Radio SRF und schrieb für den SonntagsBlick und die Schweizer Illustrierte. Ihre berufliche Laufbahn begann beim Schaffhauser Lokalradio «Radio Munot».
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