Die Welt der Wissenschaft ist ein hartes Pflaster – besonders für Frauen. Das zeigt sich unter anderem darin, dass heute zwar in vielen akademischen Disziplinen die Abschlussquoten von Frauen und Männern fast gleich hoch sind, Frauen jedoch die akademische Karriereleiter deutlich weniger hochklettern als Männer. Je höher man blickt, umso weniger Frauen finden sich in den Universitäten und Hochschulen. Zur Veranschaulichung: 59 Prozent der Bachelorabsolvent:innen sind weiblich. Bei den Doktorand:innen sind es 48 Prozent. Einen richtigen Einbruch gibt es bei den Profesor:innen: Nur 26 Prozent sind hier weiblich, und unter den Universitätsleiter:innen gibt es nur noch 18 Prozent Frauen.
Nur im Militär gibt es noch mehr Sexismus
Den Grund dafür sehen namhafte Wissenschaftlerinnen im Sexismus, der im akademischen Umfeld eine grosse Rolle spielt. Dieser zeigt sich auf vielfältige Weise: durch geschlechtsspezifische Vorurteile im Einstellungs- und Beförderungsprozess, durch das bewusste Ausschliessen von Frauen von beruflichen Netzwerken, im Entzug von Entscheidungskompetenzen oder in negativen Reaktionen gegenüber weiblicher Führung.
Nicole Boivin, Susanne Täuber, Ulrike Beisiegel, Ursula Keller und Janet G. Hering haben sich des Themas Sexismus in der Wissenschaft in einem umfassenden Paper angenommen. Sie alle sind amtierende oder ehemalige Leiterinnen von Institutionen und Forschungseinrichtungen und haben selbst ihre Erfahrungen mit Sexismus und Vorurteilen gemacht. Ihr Paper, das vor wenigen Tagen veröffentlichet wurde, trägt den Titel: «Sexism in academia is bad for science and a waste of public funding». Darin zeigen sie anhand von Studien, Berechnungen und Erfahrungen, welche gravierenden Folgen das herrschende System in der Wissenschaft für Frauen, aber auch für die Gesellschaft hat. Ihr Fazit: Der Sexismus sorgt für einen ineffizienten Einsatz von öffentlichen Forschungsgeldern und hemmt den Fortschritt. Einige der zentralsten und zugleich schockierendsten Erkenntnisse aus dem Paper sind:
- Sexismus ist schlecht für die Forschung und eine Verschwendung von Steuergeldern.
- Der Sexismus in der Forschung wird nur vom Sexismus im Militär übertroffen.
- Ein frauenfeindliches Arbeitsumfeld, sexuelle Belästigung und Voreingenommenheit führen zum Verlust von weiblichen Wissenschaftlerinnen.
- Das toxische Arbeitsumfeld ist der Hauptgrund, weshalb Frauen die Forschung verlassen.
- Der Verlust von und die Sabotage weiblicher Forscherinnen hindert den Fortschritt.
- Der Verlust von weiblichen Talenten ist ein signifikantes Problem in der Wissenschaft («leaky pipeline»).
- Wissenschaftlerinnen in den MINT-Fächern verlassen die Forschung doppelt so häufig wie Männer.
- Schwarze Frauen sind überproportional von diesen Diskriminierungen betroffen.
- Der Sexismus verursacht hohe Kosten, die nicht ignoriert werden dürfen.
Eine der Autorinnen ist die Physikerin und ETH-Professorin Ursula Keller. Sie wurde für ihre Beiträge zur ultraschnellen Laserphysik 2022 mit dem Wissenschaftspreis Marcel Benoist ausgezeichnet. Der Preis gilt unter Forschenden als Schweizer Nobelpreis. Für ellexx hat Ursula Keller einen Beitrag zum Paper verfasst. Sie beschreibt darin ihre eigenen Erfahrungen und zeigt Wege auf, wie die Wissenschaft und ihre Institutionen das System für Frauen verbessern könnten.
Der Zugang zu Macht, Ressourcen, Anerkennung und Privilegien in MINT-Führungspositionen
Meine Beobachtungen über die wachsende Feindseligkeit gegenüber Frauen in MINT-Führungspositionen wurden von Kollegen immer skeptisch betrachtet. Ich sehe zwar den Fortschritt und den Wettbewerbscharakter von Führungspositionen, frage mich aber, ob dieser Wettbewerb wirklich geschlechtsneutral ist?
Als Physikerin war mein Karriereweg gezeichnet von einem von Männern dominierten Umfeld. Wie sich das anfühlt, bringt die Aussage von Meryl Streep schön auf den Punkt: Man lernt, fliessend «männlich» zu sprechen. Auch ich habe gelernt, mich in diesem Umfeld erfolgreich zu bewegen, nicht zuletzt aufgrund meiner Erfahrungen in Stanford, Bell Labs und als Professorin an der ETH Zürich.
Meine Arbeit sorgte für wesentliche Fortschritte im Bereich der ultraschnellen Laser, die heute beispielsweise für die Mikromaterialbearbeitung in der Industrie zentral sind. Mein Weg hat mir gezeigt, dass in der Forschung eine Doppelmoral weit verbreitet ist. Viele männliche Kollegen unterstützen zwar Frauen, dennoch verspüren sie ein gewisses Unbehagen gegenüber Kolleginnen in höheren Positionen. Diese Voreingenommenheit bleibt oft unerkannt. So verteidigten beispielsweise einige die Entlassung einer Kollegin an der ETH im Jahr 2019 damit, dass sie nie Diskriminierung wahrgenommen hätten. Eine Haltung, die meiner Meinung nach die Feinheiten der geschlechtsspezifischen Vorurteile und Voreingenommenheit komplett ignoriert.
Als junge Wissenschaftlerin war ich dadurch geschützt, dass ich unter dem Radar flog. Heute erklimmen immer mehr Frauen die Karriereleiter und ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Die Massnahmen zur Förderung von Frauen sorgen also für Fortschritte und begünstigen deren Aufstieg. Doch trotz oder gerade wegen dieses Erfolgs erwecken diese Massnahmen bei einigen Männern den Eindruck, dass nun eine umgekehrte Diskriminierung stattfindet. Also dass Männer benachteiligt werden. Dieser Eindruck hält sich, obwohl Daten über die «leaky pipeline» – das Herausfallen von Frauen auf jeder Karrierestufe – dies widerlegen. Echte Gleichberechtigung beim Zugang zu Macht, Ressourcen und Privilegien mag zunächst als umgekehrte Diskriminierung empfunden werden, ist jedoch keine.
Wie Wissenschaftler Pat O. Connor betont, ist die Auseinandersetzung mit männlichen Privilegien hier von entscheidender Bedeutung. Connor stellt fest, dass die überproportionale Präsenz von Männern in Führungspositionen nicht durch deren Alter oder deren Forschungsoutput zu rechtfertigen ist. Er verweist auf das Konzept der «geschlechtsspezifischen Privilegierung» in männerdominierten Organisationen, die sich nachteilig auf Frauen auswirkt. Ein umfassender Artikel zum Thema hält zudem fest, dass «Passivität, die das bestehende System unterstützt», und die daraus resultierende Gruppendynamik entscheidende Methoden sind, um Veränderungen zu verhindern. Diese Methoden nutzen dominante Gruppen, um ihre Macht zu erhalten.
Verändert werden kann all dies durch bessere Führungsstrukturen. Eine wirksame Strategie zur Förderung dieser Führungsstrukturen besteht darin, die Zusage für finanzielle Mittel an die notwendigen Veränderungen zu knüpfen. Mehrere Organisationen haben inzwischen eine Vorreiterrolle bei der Förderung von Transparenz und guter Führung übernommen. Ein Beispiel ist das Juno-Programm im Vereinigten Königreich. Darüber hinaus könnte es eine Professionalisierung der Managementfunktionen den Professor:innen ermöglichen, sich auf ihre Kernaufgaben im Bereich Bildung und Forschung zu konzentrieren. Denn es ist nicht immer so, dass exzellente Forscher:innen auch exzellente Managementskills haben.
Was braucht es also, um die Strukturen in der Wissenschaft zu verändern und für Frauen zu verbessern? Lassen Sie mich ein paar Vorschläge machen:
- Die akademische Welt ist ein komplexes Umfeld, in dem Mobbing sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben auftreten kann. Die Dynamik des Mobbings geht über traditionelle Machthierarchien hinaus. Sie hat ihre Wurzeln häufig in stereotypen Vorurteilen, insbesondere in der geschlechtsspezifischen Erwartung, dass Frauen hilfsbereiter und fürsorglicher sein sollten als Männer. Um hier Abhilfe zu schaffen, brauchen wir klare, realistische Leistungskriterien, insbesondere in Bezug auf die Aufsicht.
- Es müssen verschiedene Interessenvertreter – darunter direkt Betroffene, kritische Stimmen, Fachleute und Verwaltungsangestellte – hinzugezogen werden, um die Strukturen zu analysieren und zu hinterfragen. Die Verantwortlichen in den Institutionen müssen die Empfehlungen aufgreifen, um Veränderungen anzustossen.
- Beschwerdeverfahren müssen unabhängig und ohne die Beteiligung von Kolleg:innen durchgeführt werden, die beruflich eng mit den Betroffenen verbunden sind. Nur dann können Beschwerdeverfahren das Vertrauen der akademischen Gemeinschaft gewinnen. Aktuell werden Beschwerdeverfahren zu oft durch Interessenkonflikte beeinträchtigt.
- Es braucht klare Kriterien für die Beruteilung von Leistungen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass man auf subjektive Urteile oder das «Bauchgefühl» zurückgreift, um Leistungen zu bewerten. Solche Urteile erhalten oft den Status quo aufrechterhalten und behindern die Vielfalt.
- Darüber hinaus sollten die Institutionen strenge Datenschutz-Standards nicht als Vorwand nutzen, um sich der Behandlung systemischer Probleme zu entziehen. Wie der MIT-Bericht von 1999 hervorhebt, ist der Nachweis von Diskriminierung in Einzelfällen schwierig. Daher ist es von Bedeutung, dass die Einrichtungen Informationen darüber offenlegen, wie andere Personen in ähnlichen Karrierestufen behandelt wurden.
Die Umsetzung all dieser Änderungen wird die Produktivität und Qualität in der Wissenschaft erheblich steigern und zweifellos auch die Freude an der Arbeit erhöhen. Als Gesellschaft profitieren wir ausserdem davon, wenn mehr Frauen dazu beitragen, unsere künftigen Herausforderungen zu bewältigen. Wir brauchen das Beste von uns allen, um diese Probleme zu lösen. Ein gutes Beispiel ist Katalin Kariko: Sie hat in diesem Jahr den Nobelpreis für Medizin gewonnen. Ihre weltverändernde Wissenschaft wäre beinahe nicht zustande gekommen. Denn sie hatte mit mangelnder Finanzierung und Anerkennung zu kämpfen, wurde degradiert und schließlich von ihrer Universität vertrieben. Wir müssen handeln, bevor wir noch mehr Talente verlieren und der Welt noch mehr potenziell transformative Entdeckungen entgehen.