Vormittag in einem Café neben der Universität Freiburg. Studierende beugen sich über ihre Zusammenfassungen, und junge Mütter sind vertieft in Gespräche. Mittendrin an einem Holztisch sitzt Pascal Gygax mit verschränkten Händen. Er trägt ein dunkles Hemd, seine Augen hinter den Brillengläsern strahlen, er lächelt.
Der Uniprofessor ist Gewinner des diesjährigen «Schweizer Nobelpreises». Für seine Forschung zur inklusiven Sprache hat er den Wissenschaftspreis «Marcel Benoist» erhalten. Dieser Preis wird seit 1920 jährlich verliehen, bisher haben ihn abgesehen von drei Frauen nur Männer gewonnen. Pascal Gygax leitet die Forschungsabteilung zu Gender und Diversität an der Universität Freiburg. In den Männerfragen erzählt der Psycholinguist, wie er den Mental Load von Karriere und Familie stemmt und ob er die Forschungsstelle wegen seines Aussehens bekommen hat.
Sie sind ein wahrer Power-Mann – obwohl Sie eine Forschungsabteilung an der Universität leiten, haben Sie Familie. Warum?
Ich habe beides, weil ich es immer wichtig fand, die Familie neben dem Beruf zu priorisieren. Als meine Tochter zur Welt kam, reduzierte ich sofort mein Arbeitspensum, um mehr Zeit mit ihr verbringen zu können.
Stimmt, ihr Männer reduziert oft euer Pensum nach der Geburt des ersten Kindes.
Als ich mein Arbeitspensum für meine Tochter auf 80 Prozent reduzierte, gab es eine Reportage darüber. Über meine Partnerin, die ebenfalls auf Teilzeit wechselte, gab es nie einen Bericht. Wenn ich als Mann etwas Progressives mache, erhalte ich Anerkennung. Wenn ich es nicht tue, erhalte ich auch Anerkennung. Bei Frauen ist das anders. Nach der Geburt unserer Tochter nahm ich einen Vaterschaftsurlaub und wurde dafür anerkannt. Meine Partnerin kann machen, was sie will, aber sie wird nie Anerkennung dafür erhalten. Es ist, als ob man von ihr all das einfach erwarten würde. Wenn sie jedoch ihre Karriere priorisiert, wird das nicht anerkannt. Das ist enorm ungerecht.
Wie bringen Sie Beruf und Familie unter einen Hut?
Für mich war es von Anfang an wichtig, ein eingespieltes Arbeitsteam zu haben und allen zu ermöglichen, sich weiterzuentwickeln. So arbeiten wir sehr effizient, ohne einander ständig kontrollieren zu müssen. Wir arbeiten auf Vertrauensbasis. Wir alle haben etwas neben der Arbeit – sei es Familie oder eine andere Beschäftigung. Wenn man noch anderes im Leben hat, ist die Arbeit zwar wichtig, aber nicht immer prioritär. Und solange man arbeitet und alles gut läuft, hat man die Freiheit, die restliche Zeit unbeschwert mit anderem zu verbringen. So habe ich die Arbeitswelt immer betrachtet.
Was ist für Sie wichtiger: Job oder Familie?
Für mich ist es das Gleichgewicht, aber die Familie ist natürlich prioritär. Als die Kita mich anrief, weil meine Tochter krank war, liess ich alles stehen und liegen, um den Zug zu ihr zu nehmen und sie abzuholen. Für meine Partnerin war das aufgrund ihrer Arbeit schwieriger. Die Kita rief vor allem mich an, da man an der Universität mehr Flexibilität in der Arbeitsgestaltung hat.
Haben Sie als Vater nie ein schlechtes Gewissen, Ihre Tochter beim Aufwachsen zu verpassen?
Doch, immer! Ich habe vor allem ein schlechtes Gewissen, da meine Tochter immer autonomer wird. Sie ist nun 15 Jahre alt und besucht das Gymnasium. Ich glaube, sie hat gar keine Lust mehr, dass ich so viel da bin. Sie hat keine Lust mehr, die Hausaufgaben mit mir zu erledigen oder viel mit mir zu unternehmen. Das zerreisst mir das Herz. Ich versuche, ihr mal etwas zu kochen oder für sie aufzuräumen, damit ich noch das Gefühl habe, dass sie mich braucht.
Wie stemmen Sie den ganzen Mental Load?
Zu Hause haben wir den Mental Load immer haargenau aufgeteilt, und das bis ins letzte Detail. Von Anfang an hatten wir Momente, in denen meine Partnerin oder ich zu Hause bleiben musste. Wir hätten es einfach auf uns zukommen lassen können. Aber da ich meiner Erziehung als Mann nicht vertraue, hielten wir unsere Aufteilung schnell auf Papier fest. Meine Partnerin und ich planen unseren Kalender immer auf drei Monate hinaus und teilen auf, wer wann zu Hause ist. Vor zwei Jahren änderten wir die Aufteilung des Mental Load, indem nur noch ich für den Haushalt zuständig bin. Meine Partnerin macht nichts mehr im Haushalt, aber dafür erledigt sie alles Administrative.
Denken Sie, dass es immer 50/50 ist, auch zu Hause?
Ja, zu Hause ist der Mental Load gleichmässig zwischen meiner Partnerin und mir aufgeteilt, da wir das sogar schriftlich festgehalten haben. Beispielsweise als unsere Tochter klein war und wir an ein Fest gingen, waren entweder meine Partnerin oder ich zu 100 Prozent für unsere Tochter zuständig. Die andere Person hatte an diesem Abend jeweils keine Care-Funktion. Sie konnte entspannt mit Freund:innen anstossen und diskutieren, die Gespräche fertig führen, ohne unterbrochen zu werden. An jeder Feier wechselten wir uns ab. So kamen unsere Bekannten auf uns zu, um zu fragen, wer von uns zwei sich an diesem Abend um unsere Tochter kümmerte. Wenn ich sagte, dass ich zuständig sei, reichten sie das Bier meiner Partnerin. So funktionierten wir.
Was für eine spannende Aufteilung. Funktionierte diese immer?
Ja.
Chapeau. Nun zu ihrer Gesundheit. Sie werden bald 50. Wie gehen Sie mit den Hormonschwankungen der Wechseljahre um?
Ich habe keine solchen Hormonschwankungen aufgrund der Menopause. Allerdings habe ich den Eindruck, dass ich die hormonellen Schwankungen der Personen um mich herum mitfühle. Auf jeden Fall habe ich Verständnis dafür. Die Menstruation, um eine Beispiel zu nennen, thematisieren wir im Team. So versuchen wir, im Arbeitsalltag richtig damit umzugehen.
Wie haben Sie diese thematisiert?
Wir sprachen darüber, dass Personen mit schmerzhafter Regelblutung an diesen Tagen nicht arbeiten müssen – ohne dass Gründe genannt werden müssen. Man muss sich nie rechtfertigen. Da wir es im Team diskutiert haben, gibt es keine offenen Fragen mehr. Und so auch keinen sozialen Druck, sich rechtfertigen zu müssen. Wir leben dies seit einigen Jahren so, selbst wenn die kantonalen Reglemente es nicht erlauben.
Stark. Was ist Ihr Rezept, um jung zu bleiben?
Ich habe kein Rezept, um jung zu bleiben. Ah, das ist eine Frage, die man Frauen stellt? Ich habe wirklich kein Rezept. Viele meiner Mitarbeiter:innen sind deutlich jünger als ich, und ich klettere oft mit anderen, die ebenfalls jünger sind als ich. Offensichtlich bleibe ich nicht jung, das ist klar. Ich bin alt, und ich fühle mich alt.
Eine klare Ansage. Sie haben den diesjährigen Preis Marcel Benoist gewonnen, auch bekannt als Schweizer Nobelpreis. Was machen Sie, damit die Leute Sie nicht für abgehoben oder eingebildet halten?
Indem ich mir selbst treu bleibe. Der Preis wurde zwar mir vergeben, allerdings steht er für die Leistung eines ganzen Teams. Er ist der Anfang von etwas Grösserem, nicht das Ende.
Der Anfang von was?
Dank dieses Preises konnte ich die Schaffung eines neuen Forschungsinstituts für Gender und Diversität initiieren. Im Moment sind wir im Aufbau und auf der Suche nach Geldgeber:innen, um das Institut zu finanzieren.
In Ihrer Forschung haben Sie herausgefunden, dass wir zum Beispiel beim Wort «Schreiner» an Männer denken, selbst wenn die Frauen mitgemeint sind. Die inklusivere Form wäre also «Schreiner:innen» oder «Schreinerinnen und Schreiner».
Die wesentliche Erkenntnis meiner Forschung ist nicht, dass die maskuline Form die Frauen ganz ausschliesst. Aber die männliche Form ist doppeldeutig. Sie kann Männer, Frauen und non-binäre Personen einschliessen, gleichzeitig kann sie auch nur Männer meinen. Unser Hirn muss mit dieser Doppeldeutigkeit umgehen. Das Einfachste für unser Gehirn ist: Männliche Form gleich Mann. Das geht schnell, und so lernen wir es von klein auf. Und deshalb ist es ein Problem. Frauen und alle Menschen, die nicht den binären Kategorien von Mann und Frau angehören, bleiben unsichtbar. Es ist, als würde unsere Sprache nur eine männliche Gesellschaft abbilden. Wenn wir hören, «die Politiker haben xy entschieden», dann denken wir an eine Gruppe von Männern. Nun ermöglichen uns inklusivere Schreibweisen, diese anderen Gruppen sichtbar zu machen.
Warum beschäftigt Sie die inklusive Sprache so stark?
Ich war immer bestürzt über Ungerechtigkeiten. Während meines Studiums bezeichnete ich mich als Humanist und sagte mir, ich sei sicher kein Feminist. Irgendwann realisierte ich, dass diese Aussage dumm war. Denn wir haben ein echtes Problem in unserer Gesellschaft: Es gibt eine privilegierte Gruppe, der ich angehöre (Männer), und eine benachteiligte (Nicht-Männer). Die Sozialpsychologie zeigt, dass man oft die Benachteiligten fragt, etwas zu ändern. Man sagt: «Wenn die Frauen bessere Umstände für sich wollen, dann müssen sie halt etwas tun.» Aber man sollte doch die Privilegierten dazu aufrufen, etwas zu tun, weil sie die Macht haben, etwas zu ändern. Als mir das bewusst wurde, war für mich klar, dass ich etwas machen muss. Darum forsche ich dazu.
Fragen Sie sich nie, ob Sie schlau genug für die Forschung sind?
Doch, das frage ich mich immer. Das Impostor-Syndrom (sogenanntes Hochstapler:innen-Syndrom) habe ich sogar, wenn ich in andere Universitäten gehe, die prestigeträchtiger sind als die Universität Fribourg. Beispielsweise wenn ich durch die Gänge der Universität Lausanne gehe, dann habe ich das Gefühl, dass selbst die Studierenden dort mehr wissen als ich. Ich muss mir oft selbst versichern: Aber Pascal, deine Arbeit ist bekannt in Europa, du darfst hier sein. Und du darfst normal gehen. Vielleicht hat es mit meiner Kindheit zu tun, in der mein Vater meine Arbeit nie gut genug fand.
Kennen Sie Lohnungleichheiten?
Ähm … Ja, ich sehe Lohnungleichheiten beispielsweise bei meiner Partnerin. Sie ist in einer Kaderposition, die viel wichtiger ist als meine Arbeit. Dort leitet sie ein Team und ist im Vorstand der Institution, in der sie arbeitet. Und trotzdem verdient sie weniger als ich. Ich finde das unglaublich.
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