Seit Beginn der Coronapandemie gehören Sitzungen und Konferenzen vor der Webcam zum Geschäftsalltag. Apps wie Zoom, Microsoft Teams oder Skype haben sich überall längst etabliert – allerdings nicht ohne Konsequenzen auf das Verhalten und Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen.
Ein Bericht der gemeinnützigen Organisation Catalyst zeigt, dass Videokonferenz-Tools die Sichtbarkeit von Frauen im Arbeitsalltag beeinträchtigen. Gemäss einer Umfrage in den USA haben 45 Prozent der weiblichen Führungskräfte in virtuellen Meetings Schwierigkeiten, das Wort zu ergreifen. Tun sie es doch, fühlt sich jede fünfte Frau ignoriert oder überhört. Eine Mehrheit der weiblichen Befragten meint deshalb, dass ihre Aussichten auf eine Beförderung in der neuen Arbeitsumgebung schlecht seien.
Video-Tools überhören Frauenstimmen
Wie Frauen in Meetings wirken – das wird in virtuellen Meetings zusätzlich durch technische Aspekte bestimmt. Neue Studien der Universität Magdeburg belegen, dass Frauenstimmen in Videokonferenzen als weniger kompetent und charismatisch wahrgenommen werden als Stimmen von Männern. Grund dafür ist die starke Kompression der zu übertragenden Sprachsignale. In einer Pressemitteilung schreibt Ingo Siegert, Leiter der Studie: «Bisher wird in der Audioverarbeitung mit vorher festgelegten Frequenzbereichen gearbeitet, die den stimmlichen Unterschieden der Geschlechter – vor allem der höheren Stimmen von Frauen – nicht immer Rechnung tragen.»
Die Studie kommt zum Schluss, dass diese technisch bedingten Diskriminierungen dazu beitragen, dass Frauen als weniger überzeugend wahrgenommen werden. Gerade in Video-Konferenzen, wo die Bildverhältnisse oft suboptimal sind, sei die Wirkung der Stimme umso wichtiger.
Durchsetzungsfähig und unsympathisch
Das ist aber nicht alles: Psychologische Effekte, die im Bereich Kommunikation für Ungerechtigkeit sorgen, gab es schon lange bevor Homeoffice zur Norm wurde. Leonie Renouil ist Diversity-Beauftragte bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und befasst sich seit Jahren mit geschlechtsspezifischen Stereotypen. «Wir haben klassische Rollenmodelle von Frauen und Männern verinnerlicht, die zu Wahrnehmungsverzerrungen führen», sagt die Expertin. Darum würde das gleiche Verhalten bei Frauen und Männern unterschiedlich bewertet – die sogenannten Double Standards. Frauen in Führungspositionen, die redselig und durchsetzungsfähig sind, werden deshalb häufig als unsympathisch eingestuft. Renouil erklärt: «Uns wurde beigebracht, dass ein gutes Mädchen brav und fürsorglich ist. Frauen zahlen also einen Preis, wenn sie sich in Meetings lautstark einbringen.»
Diese verinnerlichten Stereotypen sowie die unterschiedliche Sozialisierung der Geschlechter führen zu einem anderen Verhalten von Frauen im Geschäftsalltag. Leonie Renouil erklärt, dass sich Frauen eher partizipativer und vorsichtiger verhalten als ihre männlichen Kollegen. Diese Führungsqualitäten hätten aber oft zu wenig Platz in Unternehmen, die im angloamerikanischen Stil sehr ergebnis- und zeitorientiert arbeiten. «Wenn bei Sitzungen der Lauteste am meisten Einfluss hat, weil es schnell eine Entscheidung braucht», bedenkt sie, «können wir diese wertvollen Führungsqualitäten, die Frauen häufig mitbringen, nicht einbinden.»
Männer geben den Ton an
Die Lautstärke und Wirkung der Stimme wurde schon zu Zeiten von Margaret Thatcher diskutiert. Damals hiess es, eine Frau müsse tief und rau sprechen, um einflussreich zu sein. Die Stimmen von Frauen seien nicht das Problem, stellt Leonie Renouil klar: «Wenn wir Frauen in Sitzungen als weniger wirkungsvoll wahrnehmen, hat das vor allem mit unserer Unterzahl zu tun.» Sie erklärt, dass die männliche Mehrheit bildlich gesprochen die Musik mache und sich deshalb weibliche Beteiligte nur bedingt einbringen können. Jegliche Aussagen einer Frau würden auf ihr Geschlecht zurückgeführt, wenn der weibliche Anteil nicht mindestens einen Drittel der Gruppe ausmache. Bringt also eine Frau in einem männerdominierten Meeting ein Argument, wird es direkt mit ihrer Weiblichkeit assoziiert und häufig nicht objektiv bewertet. Gemäss dem diesjährigen Gender Intelligence Report kommen Frauen in der Schweiz im mittleren Management auf einen Anteil von 23%. «Von daher erstaunt es mich nicht, dass Frauen weniger Redezeit in Anspruch nehmen», sagt Renouil.
Die psychologischen Kosten von Videokonferenzen
Nebst der Stimme beeinflussen virtuelle Sitzungen auch das nonverbale Verhalten der Teilnehmer:innen. Eine Stanford-Studie kommt zum Schluss, dass Frauen im virtuellen Raum nonverbale Signale vermeiden, aus Angst, unseriös zu wirken. Damit ist die mentale Belastung von Videokonferenzen für Frauen deutlich höher als für Männer: Frauen leiden vermehrt an Müdigkeit und Erschöpfung nach Videokonferenzen. Die Wissenschaftler:innen führen dies vor allem darauf zurück, dass Frauen schlechter damit umgehen können, sich den ganzen Tag selbst zu beobachten. Dies aus Angst, einen schlechten Eindruck zu machen. Die psychischen Kosten von Videokonferenzen sind ungleich über die Gesellschaft verteilt.
Frauen Gehör verschaffen
Ob im virtuellen oder im physischen Raum – es brauche eine Veränderung des Betriebsklimas, sagt Leonie Renouil. Primär gehe es darum, das Umfeld so zu verändern, dass es auf die Bedürfnisse aller abgestimmt sei. «Wir müssen wegkommen von dieser häufig noch sehr männlich geprägten Arbeitswelt. Dazu braucht es sowohl strukturelle als auch kulturelle Veränderungen», sagt sie.
Nebst der Rekrutierung mehr weiblicher Führungskräfte und gendersensiblen Prozessen im Personalwesen will die Diversity-Spezialistin vor allem die Regeln in Meetings verändern. Studien zeigen, dass Frauen mehr Einfluss haben, wenn Entscheide nach dem Konsensprinzip getroffen werden. «Wenn nicht mehr der Lauteste oder Mächtigste am Tisch das Sagen hat, trauen sich Minderheiten, ihre Meinung zu teilen», sagt Renouil. Auf kultureller Ebene sei es im ersten Schritt wichtig, Führungskräfte und Mitarbeiter:innen auf Ungleichheiten am Arbeitsplatz zu sensibilisieren und Führungspraktiken zu vermitteln, die niemanden ausschliessen. Dazu führt beispielsweise Advance, der Wirtschaftsverband für Geschlechtergleichstellung, Workshops durch. In einem nächsten Schritt gehe es dann darum, Diskriminierungen auch in realen Situationen zu erkennen und vor allem – darauf zu reagieren. Frauen können sich dabei auch gegenseitig unterstützen, indem sie auf Aussagen von Kolleginnen verweisen oder auf Fehlverhalten in Meetings hinweisen.
Leonie Renouil betont, dass solche Massnahmen nicht nur zu einem besseren Betriebsklima beitragen, sondern Vorteile für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen haben: «Wenn ein Teil der Belegschaft seine Ideen nicht teilen kann, gehen wertvolles Wissen und Informationen verloren.»