Ein kleines bisschen aufgeregt ist Mathilda schon, als sie am Freitagmorgen das Bürogebäude von Latham, Weiss und Partner betritt. Heute findet das grosse Klienten-Meeting im Unesco-Fall statt, auf das sie sich die ganze Woche lang vorbereitet hat.
Aber schliesslich muss sie dieses nicht alleine bestreiten. Boris, der demselben Team angehört, wird auch dabei sein. Die Zusammenarbeit in der Vorbereitungsphase hat gut geklappt; beide Anwälte haben in etwa dieselbe Seniorität, aber eine unterschiedliche Spezialisierung, wodurch sie sich gut ergänzen.
Ein Blick in den Spiegel des Aufzugs verrät, dass der gestern aus der Reinigung geholte Anzug perfekt sitzt. Nur Haarewaschen lag nicht mehr drin, weil Mathilda bis spät abends nochmals sämtliche Notizen durchgegangen ist. Dank des Dutts sieht sie dennoch sehr gepflegt aus.
Als sie im achten Stock an Boris Büro vorbeikommt, stellt sie überrascht fest, dass bei ihm bereits Licht brennt. Normalerweise ist er im Gegensatz zu Mathilda nicht vor neun Uhr im Haus.
Mathilda betritt ihr eigenes Office, um Mantel und Tasche abzulegen. Als sie ihren Rechner hochgefahren hat, steht Boris in ihrem Türrahmen. Auch er ist etwas nervös, das sieht Mathilda auf einen Blick.
„Guten Morgen, Mathilda. Na, bereit für die grosse Show?“
„Guten Morgen Boris. Ja, ich denke schon, ich habe mir gestern unsere Notizen nochmals durchgesehen.“
„Sehr gut, dann kannst Du mich supporten, wenn mir ein paar Details fehlen, ich hatte dafür keine Zeit mehr. Apropos Notizen, ich dachte mir, wir sollten den Klienten unsere Übersicht über die verschiedenen Prozessschritte aushändigen. Wäre es Dir recht, rasch noch zehn Kopien davon zu machen? Du hast die in deinen ordentlichen Unterlagen bestimmt schneller gefunden, als ich in meinem Chaos. Vielen Dank.“
Bevor Mathilda etwas antworten kann, ist Boris bereits wieder verschwunden. Da vom Sekretariat noch niemand da ist, muss Mathilda erst einmal den Kopierer aufstarten, um Boris Bitte nachzukommen. Gerade als sie die zehn Seiten aus der Ausgabe fischt, steht dieser wieder bei ihr.
„Gut, dass wir das erledigt haben. Der Empfang hat mir soeben gemeldet, dass Maas und Jetzer schon hier sind. Bist Du so nett, sie in der Lobby abzuholen und ins Sitzungszimmer zu führen? Ich muss noch rasch meine Visitenkarten holen.“
Auch diesmal entwischt Boris ohne Mathildas Antwort abzuwarten um die nächste Ecke. Nachdem Mathilda die Kopien im Sitzungszimmer verteilt hat, macht sie sich daher auf den Weg ins Erdgeschoss, um die ersten Mandanten abzuholen.
Als Mathilda Maas und Jetzer in den grossen Meeting Room führt, begrüsst sie dort ein selbstbewusst strahlender Boris. Er stellt sich ausschweifend vor, verteilt seine Visitenkarten, nimmt am Kopf des langen Tisches Platz und bittet die Herren, sich zu setzen.
„Hat Ihnen unsere Mathilda bereits Kaffee angeboten? Nein? Dann darf ich das nachholen. Einmal mit Milch und Zucker, einmal schwarz? Mathilda, wärst Du so freundlich?“
Als Mathilda mit den beiden Tassen zurückkommt, sind bereits die übrigen Gäste eingetroffen. Sie erkennen in Mathilda folgerichtig die freundliche Bedienung und bestellen sich ebenfalls warme Getränke. Nach ihrem zweiten Gang zur Küche muss Mathilda feststellen, dass Boris bereits mit der gemeinsamen Präsentation begonnen hat.
Er unterbricht immerhin kurz und wartet, bis sie alle Klienten bedient und sich dann ebenfalls hingesetzt hat.
„Ich habe gerade damit begonnen, die Grundannahmen, auf welche unsere Prozessstrategie basiert, zu präsentieren. Herr Dr. Jetzer hat mich freundlicherweise daran erinnert, dass es gut wäre, wenn wir die heutige Sitzung protokollieren würden. Da hat er selbstverständlich recht. Mathilda, könntest Du das bitte übernehmen?“
Natürlich hätte Mathilda gerne abgelehnt, aber hier vor versammelter Mandantschaft eine Diskussion über ihre interne Arbeitsaufteilung zu beginnen, wäre unprofessionell, das weiss sie auch. Bestimmt wird ihr Boris zumindest ihren Part der Präsentation überlassen und während dieser Zeit das Protokollieren übernehmen.
Ohne eine Pause einzulegen, geht dieser allerdings nach seinem Teil dazu über, auch die in Mathildas Spezialgebiet fallende Passage des Vortrages zu präsentieren. Rhetorisch ebenso perfekt wie seine eigene, das muss man ihm lassen.
In den 90 Minuten des gesamten Referates kommt Mathilda nicht einmal zu Wort. Und auch die Klientschaft hat kaum Zwischenbemerkungen oder Fragen. Erst als Boris am Ende seiner Ausführungen anlangt, nach Anerkennung heischend in die Runde blickt und die Diskussion eröffnet, meldet sich Jetzer zu Wort.
„Ihr Vorschlag überzeugt mich überhaupt nicht. Insbesondere sind sie mit keinem Wort auf die Unesco spezifischen Besonderheiten und unseren Wunsch nach einer möglichst einvernehmlichen Lösung eingegangen. Sie vergeuden hier unsere Zeit. Ich werde mit dem zuständigen Senior Partner sprechen und ihn bitten, jemand anderen auf den Fall anzusetzen. Das wär‘s für heute.“
Jetzer steht auf und geht kopfschüttelnd zur Tür. Alle übrigen Mandanten folgen ihm rasch. Mathilda springt auf, um sie zur Lobby zurück zu begleiten, wo sie ihre Mäntel entgegennehmen und sich ein Taxi rufen lassen.
Als Mathilda zurück ins Sitzungszimmer kommt, sitzt dort ein völlig niedergeschlagener Boris. „Verstehst Du das?“
„Nein, aber ich habe alles fein säuberlich protokolliert, falls Du es nochmals nachlesen möchtest. Und wenn unser Senior Partner fragt, wer den Fall übernehmen könnte, werde ich mich freiwillig melden – ich bin ja dem Klienten gegenüber bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Hab ein schönes Wochenende.“