Wir fragen Männer, was sonst nur Frauen gefragt werden. Wir wollen damit einen Dialog über Stereotypen in Gang setzen, zum Nachdenken und Schmunzeln anregen, aber auch Toxizität entlarven.

Peter Schneider ist Psychoanalytiker und Autor. Ausserdem analysierte er jahrelang die Presselandschaft und das Weltgeschehen in seiner täglichen «Presseschau» für SRF 3. In den Männerfragen spricht er mit uns über Twitter, Feminismus und Crossdressing.

Du bist sehr aktiv auf Twitter, manchmal im Minutentakt. Woher kommt dieses Sendungsbewusstsein?

(Bläst den Rauch einer dicken Zigarre in die Kamera.) Ich weiss nicht, ob das Sendungsbewusstsein ist. Ein bisschen habe ich wohl meine alte Presseschau vom Radio auf Twitter verlagert. Obwohl ich das früher auch schon kombiniert habe. In erster Linie äussere ich mich aber auf Twitter, weil ich meine Bubble so wahnsinnig gernhabe.

Peter Schneider
Ich meine es wirklich immer furchtbar gut. Twitter ist für mich wie ein erweiterter Freundeskreis.

Das ist ja süss.

Ja, sehr niedlich. Ich äussere mich hin und wieder natürlich auch politisch oder kommentiere Presseartikel, so wie in alten Zeiten. Es gibt in meiner Bubble aber auch viele Menschen, die putzige Dinge machen. Zum Beispiel Eisenbahnen fotografieren, ihre neuen Werkzeuge zeigen oder Wildtiere wie Igel, Hasen und Stare aufpäppeln. Das sind so insidrige Dinge, die mir Freude machen. Im Grunde verschicken wir uns da wechselseitig Herzchen, teilen Fotos von dem, was wir gekocht haben, oder machen nette Kommentare. Ich meine es wirklich immer furchtbar gut. Twitter ist für mich wie ein erweiterter Freundeskreis.

Nutzt du es auch, um deine entweichende Wichtigkeit zu kompensieren?

Nein, das bestimmt nicht. Ich finde, der Verlust von Wichtigkeit ist grundsätzlich etwas Gutes. Es braucht irgendwann einen Generationenwechsel. Ausserdem habe ich ja immer noch die meine Kolumnen beim «Tages-Anzeiger» und der «SonntagsZeitung». Das reicht fürs öffentliche Räsonieren. Aber natürlich gibt es hin und wieder noch andere Dinge, die ich sonst noch irgendwo loswerden möchte.

Zum Beispiel?

Es gibt vieles, das so einfach zu erklären wäre. Und dann liest man in den Medien oder auf Social Media so viel Bullshit darüber. In solchen Fällen muss ich manchmal was dazu sagen. So gesehen bin ich wohl ein typisch dekonstruktivistischer Richtigsteller.

Also mit anderen Worten: frech und aufmüpfig.

(Lächelt und legt den Kopf schief.) Nö. Frech finde ich mich eigentlich nicht besonders. Ich polarisiere auch gar nicht so sehr oder ecke stark an. Das liegt daran, dass ich mich bewusst in sehr angenehmen Kreisen bewege. Ich diskutiere nicht mit Andrew-Tate-Fans. Nur schon, weil ich es ganz schlecht vertrage, wenn sich Lautstärke, Dummheit und Aggression paaren.

Für einen Mann bist du manchmal überraschend geistreich. Woher hast du das?

Ich nehme das als schönes Kompliment. Es kommt vermutlich daher, dass ich schon als Kind körperlich nicht mit grosser Stärke, Sportlichkeit oder hinreissender Schönheit aufwarten konnte. Da musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Der Witz ist aber, dass inzwischen vieles als geistreich angesehen wird, was eigentlich nichts anderes ist als gesunder Menschenverstand. Als Psychoanalytiker wäre ich im Prinzip ja eher dafür, das Kontraintuitive stark zu machen. Also das Gegenteil des gesunden Menschenverstandes. Vieles ist aber inzwischen in Debatten so kontraintuitiv, dass man oftmals den plumpen gesunden Menschenverstand verteidigen muss, gegen die, die meinen, sie hätten ihn gepachtet.

Wie kam es eigentlich, dass du als Psychoanalytiker diesem männerfeindlichen Freud gefolgt bist?

(Zündet die Zigarre wieder an. Der Rauch vernebelt die Kamera.) Diesbezüglich hat sich meine Haltung immer wieder geändert.

Peter Schneider
Ich diskutiere nicht mit Andrew-Tate-Fans. Nur schon, weil ich es ganz schlecht vertrage, wenn sich Lautstärke, Dummheit und Aggression paaren.

Inwiefern?

Erst kürzlich sagte mir eine Patientin, sie habe ein rund 30 Jahre altes Buch von mir gelesen. Es war eine Vorlesungsreihe zur Traumdeutung. Da habe ich geschrieben, der Geschlechtsunterschied sei eine unhintergehbare letzte Differenz. Ich habe mir mein Buch seit Jahrzehnten nicht mehr angeschaut. Ich schreibe meine Bücher und schaue nicht mehr rein. Aber das Ergebnis ist natürlich unhaltbar. Heute bin ich so weit, dass ich Freud historisieren und auch sagen kann, dass er ein Kind seiner Zeit war. Vielleicht braucht es die Umwege, um letztlich wieder beim Naheliegenden zu landen, ohne dass es einem platt erscheint. Und die berüchtigte Geschichte mit dem Ödipuskomplex, naja.

Was ist damit?

Die habe ich auf Umwegen mal verteidigt. In meinen jüngeren Publikationen nenne ich das Ganze die «Ödipus-Theologie». Die natürlich dann auch wieder mit dem Geschlechtsunterschied zu tun hat. Inzwischen bin ich durch Judith Butler und andere Autorinnen zu einer völlig anderen Position gekommen.

(Die Interviewerin ist nicht sicher, ob sie nachfragen soll. Tut es aber trotzdem.) Wie stehst du denn heute zum Ödipus-Komplex?

Er ist, wie der Name schon sagt, sehr komplex. Und ich glaube, dass Freud sich in dieser Sache mit viel Energie in eine völlige Sackgasse manövriert hat. Aber ich glaube nicht, dass die Theorie etwas mit seiner Frauenfeindlichkeit zu tun hatte, sondern eher mit der Idee des unbewussten Wunsches, den er als Motor von allem Möglichen betrachtet. Davon wird auch die Psychoanalyse beeinflusst …

(Er führt noch eine ganze Weile weiter aus. Es fallen zahlreiche Fachausdrücke wie Hermeneutik des Verdachts, der paranoische Wahn, das Erkenntnis-Subjekt, Dora-Analyse. Die Interviewerin verliert zeitweise den Faden.)

… das Kuddelmuddel macht die Analysen interessant. Psychoanalysen funktionieren wie eine gute Familienserie, wie «Modern Family». Man kann die Wendungen zwar nicht abrupt einführen, aber es kann sich immer was Neues zeigen. Das ist es, was mich an der Psychoanalyse interessiert: Das Multiple und Fluide. Und nicht dieses ewige Rumeiern, ob man bei Freud in der Scheisse nicht doch noch ein Stück Gold findet.  

Peter Schneider
Ich bin sicher kein Feminist im Sinne von Alice Schwarzer, aber im Sinne eines «trans inclusive, radical feminism» würde ich mich als einen bezeichnen.

Ganz ehrlich: Du hast mich mit deiner Antwort zwischendurch kurz verloren. Trotzdem noch eine Frage zur Psychoanalyse: Verletzt es dich, dass Männer da als neidisch, narzisstisch, und irrational dargestellt werden?

Sind sie das? Ach, solche essenzialistischen Zuschreibungen, wie Männer und Frauen sind oder sein sollen, haben mich schon früher genervt. Das hat mich auch immer am Feminismus von Alice Schwarzer gestört – schon bevor sie politisch abgedriftet ist. Wie ich übrigens auch diesen Jungs-Maskulinismus immer anstrengend und nervig fand. Ich selbst hatte zum Beispiel immer Freundinnen und Freunde, und dieses Bedürfnis, mal ausschliesslich unter Jungs zu sein, kenne ich nicht.

Welche weiblichen Vorbilder haben deine Arbeit beeinflusst?

Da gab es einige. Judith Butler mit «Gender Trouble». Oder von wissenschaftshistorischer Seite Lorrain Daston. Dann Sherry Turkle, Isabelle Stengers, Knorr-Cetina. Es gibt sicher noch viele andere, aber da ich müsste jetzt im Regal schauen. Ludwik Fleck natürlich – der ist so gut wie eine Frau.

Bist du Feminist?

Das ist ein sehr weiter Begriff. Ich bin sicher kein Feminist im Sinne von Alice Schwarzer, aber im Sinne eines «trans inclusive, radical feminism» würde ich mich als einen bezeichnen.

Wie ist das denn passiert?

Das fing früh an. Mit 14 habe ich Freuds «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» gelesen. Also ein Buch, in dem der Begriff der Sexualität zugunsten des Multiplen und Fluiden aufgemischt wird. Dass viele Psychoanalytiker:innen das Buch als sture Entwicklungspsychologie gelesen haben, wusste ich damals nicht. Dann, mit 17 Jahren, Simone de Beauvoir und ihr Werk «Das andere Geschlecht». Ein ganz kleines bisschen hat mich auch Alice Schwarzer beeinflusst mit ihrem Buch «Der kleine Unterschied und die grossen Folgen». Da habe ich meine Mutter zu einer Buchpräsentation eingeladen. Es folgten die feministischen Klassiker der 1970er-Jahre wie Phyllis Chesler «Das verrückte Geschlecht», oder Shulamith Firestone.

Wärst du eigentlich lieber eine Frau?

(Stockt kurz.) Naja, manchmal. Wenn ich so switchen könnte, fände ich das schon sehr geil.

Dann erzähl mal, wann würdest du denn switchen?

Ach, im Sommer mit einem beschwingten Sommerkleidchen und Cowboystiefeln unterwegs zu sein, fände ich sehr cool.

Vielleicht solltest du es mal mit Crossdressing probieren.

Das habe ich. Das kannst du aber nicht schreiben (überlegt kurz). Ach was, lass es drin. Ich habe meine WG früher oft mit Marlene-Dietrich- oder Zarah-Leander-Abenden im Vollfummel unterhalten beziehungsweise pestiliert. Eine meiner Vorstellungen mit Anfang Zwanzig war, tagsüber zu psychoanalysieren und abends ein Travestie-Lokal im Stil von Rick’s Café zu betreiben. Mit der Zeit ist das verblasst.

Schade.

Ja, nicht wahr?

Anderes Thema: Du bewegst dich auch in einem akademischen Umfeld und dozierst an Universitäten. Wirst du da als Mann ernst genommen?

Nö, nicht wirklich (lacht und qualmt wieder mal in die Kamera). Aber ich werde auch nicht nicht ernst genommen. Zuletzt war ich an der International Psychoanalytic University in Berlin, da war ich in meinem Metier mit «History and Epistemology of Psychoanalysis». Davor hatte ich eine Vertretungsprofessur in Bremen für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie. Die Student:innen, die tatsächlich zu meinen Seminaren gekommen sind, fanden mich ok. Aber ich weiss nicht, ob ich der grosse Heuler war. An der Uni Zürich wiederum bin ich immer sehr freundlich aufgenommen worden. Aber ich bin ja wirklich nicht der grosse Forscher, sondern eher ein etwas nerdiger und manchmal sogar origineller Gedankenkombinierer.

Peter Schneider
Ach, im Sommer mit einem beschwingten Sommerkleidchen und Cowboystiefeln unterwegs zu sein, fände ich sehr cool.

Dann hast du all deine Stellen einfach wegen deinem Aussehen bekommen?

Haha, das will ich doch hoffen. Einmal bin ich tatsächlich zum «bestangezogenen Dozenten» gekürt worden. Und ich habe damals oft Komplimente und anerkennende Bemerkungen von Student:innen zu meinem Outfit erhalten. Diese Auszeichnung hat mich tatsächlich gefreut. Wenn man langsam der ältere Herr wird, den man sich schon mit zwölf Jahren vorgestellt hat, ist das erfreulich.

Trotzdem trägst du so einen trendy Bart. Willst du damit jünger wirken?

Den trage ich schon sehr lange. Ich habe als Jugendlicher bis 25 Bart getragen. Danach war ich glattrasiert. Und mit 30 bin ich auf den Dreitagebart umgestiegen. Inzwischen trage ich sicher seit 15 Jahren einen relativ vollen Bart. Jetzt ist er gerade etwas wild, ich müsste mal wieder zum Barber (betrachtet sich kritisch am eigenen Bildschirm). Ich weiss nicht, ob man mit einem Bart wirklich jünger wirkt. Und ich möchte auch gar nicht jünger wirken. Ich werde jetzt 66, und so sehe ich wohl auch aus. Oder was hättest du gedacht?

Schwierig zu sagen. Ich weiss ja, wie alt du bist. Vielleicht hätte ich dich ein bisschen jünger geschätzt ...

Also wie viel jünger denn genau?

Phu, so Anfang 60.

Ok. Ab einem gewissen Alter ist es sehr schwierig, Leute einzuschätzen. Also, wenn ich dich jetzt schätzen müsste, das wäre echt schwierig.

Na dann los.

Ich weiss es wirklich nicht. Vielleicht 45?

Wie bitte?!

(Schaut etwas verunsichert in die Kamera.) 41?

(Die Interviewerin schweigt.)

39?

Ich bin 37.

Siehst du, so ein Scheiss! Das ist mir jetzt sehr peinlich. Das heisst aber wirklich überhaupt nichts. Ich kann echt schlecht schätzen, und ich kann mir das Alter der Menschen auch schlecht merken. Ich muss selbst langjährige Patient:innen immer mal wieder nach ihrem Alter fragen. Und wenn ich dich jetzt viel jünger geschätzt hätte, so 31 oder so, wäre das ja auch blöd gewesen. Dann hättest du gedacht, ich nehme dich nicht ernst. Oder auch nicht. Was weiss ich …

Man kann es einem fast nicht recht machen. Aber ich kann es handeln. Vielleicht hast du zum Abschluss noch einen Beautytipp für mich?

Nivea, die ganz gewöhnliche blaue, fette Niveacrème. Ich hatte zwei Grosstanten und einen Grossonkel, die ihre Haut nur mit Nivea gepflegt haben. Die hatten auch im Alter noch ein Gesicht, glatt wie ein Kinderarsch.