Du trotzt eigentlich allem: Du bist ein Nationalrat mit Migrationshintergrund und einer Behinderung, heisst Islam, und dann bist du zu allem auch noch ein Mann! Warum bist du so aufmüpfig?
(Lacht herzhaft.) Das liegt ganz klar am Mannsein.
Aha.
Ich entspreche ja nicht gerade dem Idealbild eines Mannes. Man sieht in mir eher ein armes, hilfloses Geschöpf. Ein solches Geschöpf kann keine Familie ernähren oder sie beschützen. Ich erfülle also keinen meiner offiziellen Daseinszwecke. Darum dachte ich mir: Wenn ich in den Augen der Gesellschaft schon so ein armes, hilfloses Geschöpf bin, dann zeige ich doch mal, was so ein Geschöpf alles schafft.
Sehr initiativ für einen Mann.
Irgendwie schon, oder? Ich komme aus einem Umfeld, in dem traditionelle Rollenbilder noch relativ stark gelebt werden. Das hat mich geprägt. Heute bin ich diesem Bild etwas entwachsen, gleichzeitig lebe ich es trotzdem und irgendwie aber auch so gar nicht. Es ist sehr paradox.
Es klingt vor allem sehr kompliziert. Können wir das mal aufdröseln mit diesem Rollenbild?
Es ist so: Ich bin weiss, heterosexuell, habe eine Ehefrau sowie einen Sohn und eine Tochter. Jede Durchschnittsfamilie hat zwei Kinder. Ich könnte also kaum klassischer leben. Gleichzeitig möchte ich aber traditionelle Rollenbilder aufbrechen. Das tue ich. Teilweise durch meine Behinderung, teilweise durch meine Ansichten. Dieses Widersprüchliche zeichnet mich aus. Auch als Politiker.
Weil du da, typisch Mann, keine klaren Ansagen machst?
(Lacht.) Nein, im Gegenteil. Ich bin sehr klar in dem, was ich will. Trotzdem stecke ich voller Gegensätze und Widersprüche. Zum Beispiel bin ich Politiker, obwohl ich eine Sprachbehinderung habe. Dabei reden Politiker:innen ja die ganze Zeit. Zugegeben, manchen würde es auch nicht schaden, wenn sie etwas weniger reden würden. Dann sehe ich nicht aus wie ein klassischer Politiker. Und ich bin voll authentisch, weil ich nicht anders kann. Das passt alles irgendwie nicht zusammen.
Es trotzdem zu machen, braucht Ehrgeiz und einen starken Willen
(Unterbricht die Interviewerin euphorisch:) Und Machtlust! Ich bin sehr machthungrig.
Noch so eine weibliche Eigenschaft.
(Lacht herzhaft.) Genau. Das musste ich alles entwickeln. Früher als Kind und junger Mann habe ich mich für meinen Körper geschämt, und ich habe mich geschämt, vor Leuten zu reden – vor allem vor Mädchen und Frauen. Dass aus diesem scheuen Kind eine so selbstbewusste starke Person wird, hätte ich nicht gedacht.
Wie hast du dir das denn angeeignet?
Das war ein langer und intensiver Prozess. Ich habe viel reflektiert und an mir gearbeitet. Irgendwann habe ich entschieden, mein Schicksal anzunehmen. Ich werde meine Behinderung nie lieben. Sie ist scheisse, das kann man nicht schönreden. Aber ich wollte und musste einen Umgang damit finden, um weiterzukommen. Auch weil ich eben nicht diesem Bild des hilflosen, armen Geschöpfs entsprechen wollte. Inzwischen habe ich aus der Not sogar teilweise eine Tugend gemacht.
Ich höre.
(Schmunzelt verschwörerisch.) Viele finden das, was ich mache cool, teilweise auch, weil ich es als behinderter Mann mache. Sie hinterfragen dabei manchmal gar nicht meine Positionen, die ich vertrete. Dabei übersehen sie, dass ich auch total verrückte linke Ideen habe. Sie unterschätzen mich. Du siehst, es hat auch Vorteile.
Sehr interessant, du agierst also quasi wie ein trojanisches Pferd?
Irgendwie. Ich finde es sehr faszinierend, wie die Wahrnehmung über mich unterschiedlich ist. Eigentlich bin ich ein cis Mann. Aber viele sehen das nicht, weil meine Behinderungen alles überstrahlen. Das hat mich eine Zeit lang belastet, heute nutze ich es, um das Beste für andere Menschen mit Behinderungen rauszuholen. Ich habe gelernt, damit zu arbeiten und auch je nach Gruppe entsprechend zu kommunizieren.
Lass mich raten, mit Männern redest du sanft, mit Frauen klar und direkt?
Ganz genau – wirklich. Weisst du, warum ich vor allem mit Assistentinnen arbeite?
Nein, warum?
Frauen muss ich nicht erklären, was Inklusion bedeutet. Im Gegensatz zu Männern. Bei denen muss ich bei Adam und Eva anfangen. Dafür habe ich keine Zeit und keine Energie. Darum arbeite ich viel lieber mit Frauen, wir können an einem ganz anderen Punkt anfangen und auf einem anderen Niveau kommunizieren. Das ist viel einfacher und angenehmer.
Du wurdest im Herbst in den Nationalrat gewählt. Ist diese grosse nationale Politbühne wirklich was für Männer?
Gute Frage. Manchmal, wenn ich im Nationalrat so in die Runde schaue, habe ich meine Zweifel, ob Politik was für Männer ist. Ich habe das Gefühl, es überfordert uns.
Emotional oder intellektuell?
Haha, beides vermutlich. Aber vor allem überfordert es uns, so viel Verantwortung zu übernehmen. Das ist eigentlich nicht so Männersache.
Wie meinst du das?
Nun, es sind die Frauen, die die wichtigen und verantwortungsvollen Aufgaben in der Gesellschaft übernehmen. Sie kümmern sich um relevante Themen, um Gleichstellung, erziehen Kinder und halten die Gesellschaft zusammen. Wir Männer tragen da nicht so viel dazu bei. Von uns kommt auch viel heisse Luft. Frauen sind aus meiner Sicht viel geeigneter für Politik als Männer.
Wo du recht hast …
Ja, weisst du, das merke ich nicht nur in den Ratssitzungen, es zeigt sich auch in den Pausen. Wenn ich mit Ratskolleginnen rede, geht es meistens um Inhalte. Mit den Männern hingegen auch viel um Fussball.
Haha, schönes Beispiel. Aber unter Männern nennt man das wohl Netzwerken.
Dafür habe ich keine Energie. Es gibt in der Politik so viele Apéros, wo alle rumstehen und sich darüber unterhalten, was für tolle Typen sie doch sind. Da will ich nicht mitmachen. Ich kann gar nicht so lange reden, und mittlerweile bin ich ganz froh darum.
Du sitzt für die SP im Nationalrat. War dir die FDP zu feminin?
Ja, absolut (schmunzelt). Die SP ist die Gleichstellungspartei mit vielen starken Frauen. In diesem Setting fühle ich mich wohl.
Oder weil ihr Männer einfach alle so links und sozial seid?
Nein, nein. Ich bin nur bedingt sozial. Du weisst ja, ich bin machthungrig. Ich will Inklusion zum Mainstream machen. Und dafür tue ich alles. Dafür überhole und überrolle ich auch andere Männer.
Das sind deutliche Worte. Wie gelingt dir das bis jetzt?
Sehr gut. Ich wurde 2022 in den Zürcher Gemeinderat gewählt, mit zwei Stimmen Unterschied. Nur 18 Monate später schaffte ich die Wahl in den Nationalrat. Das ist schon eine sehr steile Karriere, finde ich.
Das ist tatsächlich ganz ordentlich. Aber du bist ja auch ein sehr charmanter Typ. Das hat deiner Karriere sicher geholfen.
Ich weiss schon, wie ich meinen Charme einsetzen muss (schmunzelt). Aber im Ernst: Ich hatte auch Glück, ein gutes Umfeld, und es war die richtige Zeit.
Hast du manchmal Angst, dass du das alles gar nicht kannst?
Ja, immer wieder. Ich zweifle an mir, hinterfrage alles und habe manchmal richtige Weinkrämpfe. Weil alles irgendwie zu viel ist und ich mich frage: Was mache ich eigentlich da?
Und wie kommst du da wieder raus?
Ich habe ein gutes Umfeld, das mir hilft. Und ich versuche in solchen Situationen, mein Ego zu boosten.
Bitte?
Ja, das ist etwas, das wir Männer machen. Und zwar alle, weil wir alle zweifeln immer wieder an uns. Wenn einer sagt, dass er das nicht tut, dann lügt er. Wenn ich also ein Tief habe, zeige ich mir auf, was ich alles schon geschafft habe. Das hilft. Keine Ahnung, woher das mit diesem Boosten kommt, aber es ist irgendwo in mir drin.
Welche Frauen haben dich inspiriert?
Gjeva Alijaj, Pascale Bruderer, Kafi Freitag, Anna Graff, Anna-Béatrice Schmaltz, Mandy Abou Shoak und viele mehr: Es waren vor allem Frauen, die mich inspiriert und auch gefördert haben.
Du hast mal gesagt, du willst der Steve Jobs der Behinderten werden. Warum bist du nicht bescheidener?
In der Schweizer Politik darf man nicht zu grössenwahnsinnig sein. Das kommt nicht gut an. Ich habe mir gesagt: Ich habe eh verloren. Darum muss ich irgendwie auffallen. Ich will die Rechte für Menschen mit Behinderungen revolutionieren und einen echten gesellschaftlichen Dialog auf Augenhöhe anstossen. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die man mit «normalen» Mitteln nicht bewältigen kann. Also habe ich es den Amerikaner:innen abgeschaut. Die leben ja von Grössenwahn.
Und da hast du dich anstecken lassen? Immerhin hiess deine Kampagne ganz bescheiden «Geschichte schreiben».
Ich wollte es einfach mal probieren. Und es ist aufgegangen. Meine Kampagne «Geschichte schreiben» ist voll eingeschlagen. Wir haben in Cannes einen Löwen und in New York einen Grand Prix gewonnen, und nun gibt es wohl noch einen Dokfilm darüber.
Anderes Thema: Du hast zwei Kinder im Primarschulalter, bist berufstätig, machst Politik und hast auch noch ein Buch geschrieben. Wie geht das alles zusammen?
Das geht nur dank meiner starken Frau. Ohne sie wäre das nicht möglich. Wir haben die Kinderbetreuung schon früh klar aufgeteilt: Aufgrund meiner Behinderung hat sie sich hauptsächlich um die Kinder gekümmert, als sie Babys waren; seit sie in der Schule sind, liegt die Hauptverantwortung bei mir. Ich bin zum Beispiel Ansprechperson für die Schule oder mache mit ihnen Hausaufgaben. Und dann helfen uns die Grosseltern noch.
Du bist insgesamt sehr eingespannt und als Nationalrat oft in Bern. Hast du ein schlechtes Gewissen gegenüber deinen Kindern?
Immer. Es ist eine wichtige Zeit im Leben meiner Kinder, und ich will davon nichts verpassen. Darum halte ich mir die Wochenenden frei und nehme maximal zwei Termine abends unter der Woche wahr – lieber noch weniger.
Immerhin. Kommen wir noch zur Lieblingsrubrik unserer Interviewpartner: dem Beauty Talk.
(Strahlt übers ganze Gesicht.) Cool, ich freu mich. Ich lege nämlich viel Wert auf mein Äusseres und bin ziemlich eitel.
Das sieht man. Jetzt gehst du ja auf die 40 zu. Stressen dich die grauen Haare, die ich da an der Seite sehe?
Nein, eigentlich nicht. Was mich hingegen stört, sind die Falten im Gesicht.
Tatsächlich, ich wollte jetzt grad sagen, dass sich deine Haut ganz gut gehalten hat.
(Leicht verlegen.) Wirklich?! Das freut mich. Ich pflege sie gut. Ich trage jeden Abend Gesichtscreme auf, damit ich frisch bleibe.
Das scheint zu wirken. Und was ist dein Signature Look fürs Bundeshaus?
Da gehe ich gerne ganz chic mit weissem Hemd und einem massgeschneiderten Anzug.
Hast du sonst noch ein Beauty-Geheimnis, das du uns verraten willst?
Ich mache so gut wie möglich Sport. Mein Ziel ist, dass ich mal noch ein Sixpack habe (schmunzelt). Ich will jetzt alles nachholen, was ich in jungen Jahren verpasst habe.
Dann viel Erfolg. Du hast es geschafft. Wie wars?
Sehr lustig, es hat wirklich Spass gemacht.
Das freut mich, mir auch. Danke für das Gespräch.