Vor über zehn Jahren bemerkte Lise Vesterlund, dass bei ihrer Karriere etwas schieflief. Sie hatte zu viel Arbeit, bekam zu wenig Anerkennung und steckte auf der Karriereleiter fest. Mit dieser Erkenntnis war sie nicht allein. Auch Linda Babcock, Brenda Peyser und Laurie Weingart ging es ähnlich. Die vier Frauen beschlossen, dem Phänomen auf den Grund zu gehen, und begannen zu forschen. Ihre Ergebnisse haben sie im Buch «The No Club» festgehalten. Wir haben Lise Vesterlund zum Interview getroffen.
Lise Vesterlund, Sie sind Gründerin des «No Club» und haben ein Buch mit diesem Titel geschrieben. Worum geht es da?
Vor etwa zwölf Jahren habe ich zusammen mit vier anderen Frauen den «No Club» gegründet. Auslöser dafür war, dass wir alle sehr gefordert waren mit den Aufgaben, die bei unserer Erwerbsarbeit an uns gestellt wurden. Es war für uns schwierig, all die Tasks innerhalb unserer Arbeitszeit zu erledigen. Wir haben darum angefangen, uns regelmässig zu treffen und uns darüber auszutauschen, woher diese Überforderung kommt. Dabei stellten wir fest: Wir alle erledigen viele Aufgaben, die eigentlich nicht zu unserem Job gehören und für die es auch noch wenig Anerkennung gibt.
Sie erkannten so die sogenannte nicht beförderungsrelevante Arbeit und haben dazu zehn Jahre geforscht. Was zeichnet diese Arbeit genau aus?
Das sind Arbeiten und Aufgaben, die für ein Unternehmen zwar wichtig sind, aber der persönlichen Karriere wenig helfen. Denn das Erledigen dieser Aufgaben hat weder einen positiven Effekt auf die Karriere noch auf den Lohn. Die Arbeiten zeichnen sich durch drei Merkmale aus: Erstens tragen sie nicht direkt zur Erfüllung des Unternehmensziels bei. Sie bringen also beispielsweise keinen Umsatz. Zweitens ist diese Arbeit oft unsichtbar und wird hinter den Kulissen erledigt. Und drittens handelt es sich in der Regel um Aufgaben, für die keine besonderen Fähigkeiten gefragt sind.
Können Sie einige konkrete Beispiele nennen?
Die Aufgaben sind sehr unterschiedlich, und es gibt sie auf allen Stufen. Beispiele sind: Anderen bei ihrer Arbeit helfen oder ihre Arbeit verbessern, ein Abschiedsgeschenk oder eine Teamveranstaltung organisieren, in einem internen Ausschuss mitarbeiten, neue Mitarbeitende einführen und schulen und so weiter. Es kann aber auch die Betreuung von zeitaufwändigen, schwierigen Kund:innen sein, die wenig Umsatz bringen.
Aber die meisten dieser Aufgaben sind doch wichtig für die Kultur und das Funktionieren eines Unternehmens?
Ja, das sind sie. Trotzdem werden sie nicht wertgeschätzt, und vor allem fliessen sie nicht in die eigene Leistungsbewertung ein. Dort zählt in der Regel nur das, was auch dem Unternehmensziel dient, also beispielsweise Umsatz generiert oder Innovation hervorbringt. Dazu gibt es auch eine Studie von McKinsey und LeanIn.
Was zeigt die Studie?
Es wurden 400 Unternehmen befragt. Sie sollten bewerten, welche Aufgaben wichtig für Führungskräfte sind. Ein Punkt war beispielsweise, das regelmässige Überprüfen des Wohlbefindens der Mitarbeitenden. 90 Prozent der Befragten Führungskräfte gaben an, dass dies eine wichtige Aufgabe sei. Auf die nachfolgende Frage, ob diese Arbeit formale Anerkennung bekomme, antworteten nur 25 Prozent der Befragten mit Ja. Die Ergebnisse waren bei Themen wie Diversität, Gerechtigkeit und Integration ähnlich. Die meisten Unternehmen finden diese Themen zwar wichtig, der zeitliche Aufwand dafür erhält aber keine Anerkennung.
Wie viel häufiger übernehmen Frauen solche Aufgaben?
Unsere Untersuchung zeigt: Weibliche Angestellte investieren pro Jahr 200 Stunden mehr von ihrer Zeit in diese nicht beförderungsrelevante Aufgaben als ihre männlichen Kollegen. Das ist ein ganzer Monat Arbeit, der weder anerkannt noch belohnt wird.
Ich bin schockiert. Warum ist das so?
Es ist wirklich schrecklich. In einer anderen Studie haben wir herausgefunden, dass Frauen mit 44 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als Männer darum gebeten werden, solche Aufgaben zu übernehmen. Und: Frauen übernehmen diese Arbeiten dann auch mit 50 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit.
Weshalb nehmen Frauen diese Aufgaben denn an?
Das hat mit der Prägung zu tun. Die meisten sagen nicht Ja, weil ihnen diese Aufgaben besonders viel Spass machen oder weil sie besonders gut darin wären. Frauen übernehmen sie schlicht und einfach, weil es von ihnen erwartet wird. Nicht nur von Vorgesetzten, auch von Kolleg:innen. Zudem haben Frauen diese Erwartungen auch selbst verinnerlicht. Frauen, die Nein sagen, plagen oft grosse Schuldgefühle. Dies nicht zuletzt, weil sie wissen, dass niemand sonst die Aufgabe übernehmen wird, wenn sie es nicht tun. Ringen sie sich dennoch zu einem Nein durch, wird dies ausserdem oft anders aufgenommen, als wenn die Absage von einem Mann kommt.
Inwiefern?
Die Reaktionen sind deutlich negativer. Sagen Frauen Nein, unterstellt man ihnen, sie seien egoistisch oder nicht teamfähig. Auf der anderen Seite gelten Männer als grosszügig, wenn sie solche Aufgaben übernehmen. Bei einem Mann ist niemand enttäuscht, wenn er Nein sagt. Männer lehnen solche Anfragen auch ab, ohne sich schuldig zu fühlen. Sie verlassen sich darauf, dass jemand anderes die Arbeit erledigt.
Welche Folgen hat das für die Karriere von Frauen?
Viele negative. Frauen werden nicht so schnell befördert wie ihre männlichen Kollegen, weil sie weniger Zeit zur Verfügung haben für jene Arbeiten, die für eine Beförderung zählen. Aus diesem Grund bekommen Frauen auch häufig nicht den Lohn, den sie eigentlich verdienen würden. Und schliesslich schlägt sich diese ungleiche Arbeitsverteilung auch auf die Psyche von Frauen nieder.
Wie zeigt sich das?
Wer immer wieder Aufgaben übernimmt, die nicht den eigentlichen Kompetenzen entsprechen, läuft Gefahr, das Selbstvertrauen zu verlieren. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit für ein Burn-out. Denn trotz langer Arbeitszeiten und viel Einsatz kommen Frauen karrieretechnisch nicht weiter, oder zumindest nicht so schnell wie Männer. Frauen, die mit solchen unsichtbaren Aufgaben überlastet sind, können ihre Talente und Fähigkeiten nicht so nutzen, wie sie es gerne würden. Viele verlieren ihre Motivation.
Haben Sie darüber mit den Frauen gesprochen?
Ja, wir haben Frauen nach den Gründen für ihren Arbeitsplatzwechsel gefragt. Viele gaben an, dass sie das Gefühl haben, nicht richtig gefordert zu sein und nicht die Aufgaben zu erhalten, die ihren Kompetenzen entsprechen würden. In unseren Interviews sprachen wir mit jungen Frauen, die gerade ins Berufsleben eingestiegen waren. Sie waren begabt, qualifiziert und hatten sich bemüht, ihre Karriere aufzubauen. Aber schon nach kurzer Zeit auf dem Arbeitsmarkt entwickelten sich ihre Karrieren plötzlich in eine Richtung, die sie nicht wollten: Sie kamen nicht weiter und erledigten dafür allerlei Aufgaben.
Waren sich die Frauen dessen bewusst?
Die jüngeren wussten zwar nicht, was genau schief lief, sie waren aber oft misstrauisch und hatten das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ich habe beispielsweise mit einer jungen Frau in einer Junior-Position gesprochen, die gleich nach ihrem Einstieg einen Kunden bekommen hatte, den vorher ein Seniorpartner des Unternehmens vor seiner Pensionierung jahrelang betreute. Alle sagten ihr: «Das ist toll. Du bekommst diesen Kunden und kannst ihn ganz allein betreuen.»
Und was ist daran nicht gut?
Nun, wenn man als junge Person neu in einem Unternehmen ist, sollte man sich nicht allein um alteingesessenen Kund:innen kümmern müssen. Man sollte in Teams arbeiten, in denen man von anderen lernen kann. Andere Frauen, mit denen wir gesprochen haben, bekamen schwierige Kund:innen, und alle sagten ihnen: «Das ist so ein komplizierter Kunde, aber du kannst gut mit ihm umgehen. Konflikte und Probleme lösen sind echte Stärken von dir.» Diese falschen Komplimente kombiniert mit der Aussage, dass sie gebraucht werden, sind wirksame Mittel, um Frauen auf ein Abstellgleis zu schieben und sie so auszubremsen.
Wie schaffen es Frauen unter diesen Umständen überhaupt in Führungspositionen?
Unsere Studien haben gezeigt: Frauen in Junior-Positionen, die 200 Stunden mehr an nicht beförderungsrelevanten Arbeit leisten, wenden 200 Stunden weniger für Arbeiten auf, die für eine Beförderung zählen. Diejenigen in Führungspositionen verbrachten genauso viele Stunden mit Aufgaben, die wichtig für die Karriere waren, wie ihre männlichen Kollegen. Aber: Sie wendeten noch immer 200 Stunden für die Aufgaben auf, die keine Anerkennung bekommen. Sie machten dies einfach zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit.
Gibt es bezüglich der Arbeitsverteilung Unterschiede zwischen verschiedenen Branchen?
Es zeigt sich, dass geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Aufgabenverteilung in jedem der untersuchten Berufe auftreten. Es gibt dieses Ungleichgewicht bei Berater:innen, Anwält:innen, Architekt:innen, in der Wissenschaft, bei Ingenieur:innen und im Detailhandel.
Gibt es Unterschiede, wenn eine Frau ein Team oder ein Unternehmen leitet?
Nein. Männliche und weibliche Führungskräfte fordern Frauen gleichermassen auf, solche Aufgaben zu übernehmen. Der Grund ist einfach: Als Führungskraft will man, dass die Arbeit erledigt wird, und zwar möglichst effizient und gut. Man hat keine Zeit für Widerstand. Also fragt man diejenige Person, von der man am wenigsten Widerstand und am ehesten ein Ja erwartet.
Wie lässt sich dieses Problem lösen? Müssen Frauen lernen, Nein zu sagen?
Frauen können dieses Problem nicht allein lösen. Es sind die Unternehmen, die ihr System überdenken und ihre Abläufe anpassen müssen. Dies nicht zuletzt aus eigenem Interesse. Kein Unternehmen will mehr Mitarbeitende, die Nein sagen. Es braucht mehr Personen, die Ja sagen und solche Aufgaben übernehmen.
Und wie schaffen Unternehmen das?
Zuerst geht es um ein Bewusstsein. Unternehmen müssen sich klar darüber werden, welche Arbeiten wirklich zählen und in den Beförderungs- oder Lohnprozess einfliessen und welche nicht. Als nächstes sollten sie sich einige Fragen stellen: Wer übernimmt wie viele Aufgaben, die nicht für diese Prozesse zählen? Widerspiegelt die Verteilung dieser Aufgaben die Zusammensetzung unseres Unternehmens? Nach welchen Kriterien verteilen wir solche Arbeiten?
Wie können Unternehmen diese Aufgaben gerechter verteilen?
Im Allgemeinen sollten auch solche Arbeiten – wie alle anderen – nach Fähigkeiten verteilt werden. Das heisst: Wer am besten für die Aufgabe geeignet ist, übernimmt sie, und nicht der- oder diejenige, die am wenigsten zögert und am schnellsten Ja sagt.
Und wie ist es bei Aufgaben, bei denen keine besonderen Fähigkeiten gefragt sind?
Für die Verteilung dieser Aufgaben braucht es klare Regeln und Systeme, die für Abwechslung sorgen. Das kann sein, dass Namen zufällig ausgelost werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine Liste von Personen zu erstellen, die bisher noch nicht viele solcher Aufgaben übernommen haben, und ihnen den nächsten Task zuzuweisen. Das Ziel muss sein, dass alle Mitarbeitenden dieselben Möglichkeiten haben, beförderungsrelevante Arbeiten zu übernehmen.
Es braucht also strukturelle Änderungen. Das kann dauern. Was können Frauen in der Zwischenzeit tun, um sich zu entlasten?
Es gibt durchaus Dinge, die Frauen tun können: Erkennt, welche Arbeiten ihr übernehmt, die keine Anerkennung bekommen. Fragt euch, ob eure Leistung im Einklang mit dem steht, was eure Kolleg:innen leisten. Wenn nicht, könnt ihr einen Teil der Aufgaben an andere abgeben? Wenn ihr neue Anfragen bekommt und Nein sagen wollt, ist es hilfreich, die Perspektive desjenigen einzunehmen, der anfragt. Denkt daran: Euer Gegenüber will in erster Linie, dass das Problem gelöst wird. Es geht nicht darum, dass genau du die Aufgabe übernimmst. Ein guter Weg, um Nein zu sagen ist, eine kurze Erklärung und dann eine Lösung für das Problem zu bieten, zum Beispiel so: «Ich kann diesen Auftrag nicht übernehmen, weil ich schon eine ähnliche Aufgabe habe und weil ich an einer wichtigen Arbeit dran bin. Aber frag doch Jim. Er ist neu. Die Aufgabe würde ihm helfen, sich weiterzuentwickeln, und er könnte so viele neue Leute kennenlernen.»
Gibt es noch andere Möglichkeiten?
Frauen können ihr Ja auch verhandeln. Ihr könnt zu einer nicht beförderungsrelevanten Aufgabe Ja sagen, wenn ihr dafür eine andere loswerdet. Oder ihr erklärt euch bereit, den Auftrag dieses Mal zu übernehmen, wenn jemand bereit ist, das beim nächsten Mal zu tun. Oder ihr sagt nur dann Ja, wenn die Aufgabe in kleinere Teile unterteilt wird. Wichtig ist auch zurückzufragen: Warum werde ich gefragt? Was macht mich zur besten Wahl für diese Aufgabe? Und schliesslich sollte ihr euch immer auch selbst einige Fragen stellen: Was ist mein persönlicher Auslöser, diese Arbeit anzunehmen? Was ist mein implizites Nein?
Das «implizite Nein»?
Beim impliziten Nein geht um all das, was man nicht tut, wenn man eine Aufgabe übernimmt. Beispielsweise: Kann ich nicht an einem anderen, wichtigeren Projekt arbeiten? Werde ich mich nicht um mich selbst kümmern? Schaffe ich es nicht rechtzeitig nach Hause, um bei meiner Familie zu sein? Wenn man sich des impliziten Neins bewusst ist, fällt es oft leichter, Anfragen abzulehnen, weil man merkt, was man sonst verpasst. So verliert man die Schuldgefühle.
Wie haben Sie gelernt, Nein zu sagen?
Ich dachte immer, wenn ich nur ein bisschen härter arbeite und mich ein bisschen mehr anstrenge, dann kann ich all die Arbeit erledigen, die ich erledigen muss. Und ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich Leuten, die meine Hilfe brauchten, absagte. Aber als ich über mein implizites Nein nachgedacht habe, wurde es viel einfacher. Denn es galt immer meiner Familie und meinen Kindern. Als ich das realisierte, fühlte ich mich nicht mehr schuldig. Denn meine Kinder hatten meine Zeit viel mehr verdient als unvernünftige Anfragen in letzter Minute.
Am Ende geht es also doch darum, dass Frauen lernen, Nein zu sagen.
Teilweise. Aber es geht auch darum, Prioritäten zu setzen. Man muss erst einmal erkennen, wie viel Zeit man für beförderungsrelevante Arbeit aufwendet. In einem zweiten Schritt kann man für sich definieren, welche anderen Aufgaben einem wichtig sind. Mir lag beispielsweise immer die Förderung und Betreuung von jungen Frauen am Herzen. Deshalb habe ich mich darauf konzentriert und dafür andere Dinge nicht mehr gemacht. Wichtig ist, dass die Aufgaben besser verteilt werden. Wenn jeder und jede, Zeit in nicht diese Aufgaben investiert, profitieren wir alle davon. Nur so gelingt es, dass weibliche Talente nicht auf einen falschen Weg geschickt werden und so verloren gehen.
Lise Vesterlund ist Wirtschaftsprofessorin an der Universität Pittsburgh. Ihr Fokus liegt auf geschlechtsspezifischen Unterschieden im beruflichen Aufstieg. Sie leitet das Experimental Economics Laboratory (PEEL) und die Behavioral Economic Design Initiative (BEDI).