Es ist paradox: Sind Eltern in der Schweiz beide berufstätig, belastet dies die Familienkasse oft eher, statt sie zu entlasten. Ein wesentlicher Grund dafür sind die hohen Kosten für die familienergänzende Betreuung, vor allem im Vorschulalter. Viele Eltern sind bei der Finanzierung auf sich gestellt oder tragen auch mit staatlicher Unterstützung zumindest die Hauptlast. Die Schweiz schneidet auch schlecht ab, wenn es um den finanziellen Support der frühkindlichen Betreuung geht. Nur gerade 0,4 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) investiert die öffentliche Hand hierzulande in Kitas und Tagesfamilien. Damit belegt die Schweiz in einem OECD-Vergleich mit anderen europäischen Ländern den letzten Platz. Dies zeigt ein Bericht der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF). Zum Vergleich: Der Spitzenreiter Dänemark investiert 2 Prozent des BIP in die frühkindliche Betreuung.

Es ist paradox: Sind Eltern in der Schweiz beide berufstätig, belastet dies die Familienkasse oft eher, statt sie zu entlasten.

Aber nicht nur im Verhältnis zum BIP knausert die Schweiz. Sie unterstützt Familien auch effektiv deutlich weniger als andere Länder. Die öffentliche Hand – meist sind es Gemeinden und Kantone – übernimmt laut Schätzungen durchschnittlich nur einen Anteil von 40 Prozent der Betreuungskosten. Oft ist es weniger. Die OECD-Länder weisen im Schnitt hingegen einen Unterstützungsanteil von 65 bis 98 Prozent für die untersuchten europäischen Länder aus.

Die Kosten für die Betreuung übersteigen das Einkommen

«Wir wissen aus Studien, dass es sich für viele Familien finanziell nicht lohnt, wenn beide Elternteile hochprozentig erwerbstätig sind», sagt Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin des Frauendachverbandes Alliance F und GLP-Nationalrätin des Kantons Bern. «Bei Familien mit zwei Kindern übersteigen die monatlichen Kosten oft das erwirtschaftete Einkommen, wenn die Kinder mehr als zwei Tage die Kita besuchen. Auch oder gerade bei mittleren Einkommen». Diese Tatsache sei einer der Hauptgründe, weshalb viele Frauen höchstens in einem 40-Prozent-Pensum arbeiten. Auch die Zürcher SP-Nationalrätin Min Li Marti stimmt dieser Aussage zu: «Durch die Unterfinanzierung der frühkindlichen Betreuung werden Eltern zu stark finanziell belastet. Das führt zu Fehlanreizen, sodass es sich für viele nicht lohnt, das Pensum zu erhöhen.» Marti hat im Juni 2021 eine Motion eingereicht, die verlangt, dass die Kosten für die familienexterne Kinderbetreuung die Haushaltsbudgets nicht mit mehr als 10 Prozent belasten dürfen.

Kathrin Bertschy
Bei Familien mit zwei Kindern übersteigen die monatlichen Kosten oft das erwirtschaftete Einkommen, wenn die Kinder mehr als zwei Tage in die Kita besuchen. Auch oder gerade bei mittleren Einkommen.

Riesige Unterschiede bei den Tarifen

Wie hoch die finanzielle Belastung für eine Familie ist, hängt in erster Linie vom Wohnort ab. Sowohl die Kita-Tarife als auch die Höhe der Subventionen variieren von Ort zu Ort. Die Unterschiede sind so gross, dass es keine schweizweite Erhebung darüber gibt. Die Grossbank Credit Suisse hat aber in einer Studie vom Mai 2021 die Tarif- und Subventionsreglungen von 194 Gemeinden untersucht. Demnach zahlen Eltern mit mittleren bis hohen Einkommen in den Kantonen Bern, Zug und Zürich am meisten für einen Kitaplatz (rund 130 Franken pro Tag). Am tiefsten sind die Tagestarife mit knapp 80 Franken in Schaffhausen, Appenzell und St. Gallen. Noch grösser sind die Unterschiede bei den Tarifen für Eltern mit tiefen Einkommen. Während diese Familien in Genf 5 Franken pro Tag bezahlen, kostet ein Kitaplatz dieselbe Familie in Schwyz ganze 85 Franken.

Kita-Kosten von fast 25'000 Franken im Jahr

Ein Blick auf die Jahreskosten macht deutlich, wie unterschiedlich und wie stark belastend sie sind. Die CS-Studie geht für die Berechnung von einer Musterfamilie aus: ein Ehepaar, zwei Kinder (2 und 3 Jahre alt), zwei Tage pro Woche Betreuung in einer Kita, 140 Prozent gemeinsames Arbeitspensum, jährliches gemeinsames Bruttoeinkommen 110'000 Franken, Vermögen 100'000 Franken. In diesem Fall zahlen die Eltern pro Jahr zwischen 4700 Franken (Wollerau, SZ) und 24'200 Franken (Wetzikon, ZH). Bei einem jährlichen Bruttoeinkommen von 80'000 Franken und einem Vermögen von 50'000 Franken ist der Unterschied noch gravierender. Die jährlichen Kita-Ausgaben schwanken zwischen 2900 Franken (Aarberg, BE) und 22'000 Franken (Lüsslingen-Nennigkofen, SO).

«Die Schweiz ist in Sachen Finanzierung von Fremdbetreuung ein Entwicklungsland», sagt Kathrin Bertschy. Man unterstütze noch immer ein Familienmodell der Nachkriegszeit, in dem die Männer arbeiten und die Frauen zu Hause bei den Kindern blieben. «Diese patriarchalen Strukturen widerspiegeln sich bis heute in unseren Gesetzen.» Das wiederum führe dazu, dass in der Schweiz noch immer Rahmenbedingungen herrschen, welche Frauen dazu zwingen, auf ihren Beruf oder zumindest auf ihr Wunschpensum zu verzichten. «In unserem System geht man nach wie vor davon aus, dass Kinderbetreuung Privatsache ist. Darum ist die familienergänzende Betreuung teuer und für viele nicht erschwinglich. Dieses System reproduziert Ungleichheit, immer und immer wieder», so Bertschy.

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Die Frauen fehlen auf dem Arbeitsmarkt

Ganz so privat ist das Thema allerdings nicht. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass die frühkindliche Betreuung die Kasse der Eltern belastet, hat Konsequenzen, die weit über die Familie hinaus gehen. Schweizweit fehlen in den nächsten zehn Jahren rund eine halbe Million Arbeitskräfte. Hier liegt bei den Frauen viel Potenzial brach. In der Schweiz sind acht von zehn arbeitenden Müttern mit Kindern unter 15 Jahren in einem Teilzeitpensum tätig, die Hälfte von ihnen in einem Pensum von weniger als 50 Prozent. Gleichzeitig möchte rund ein Sechstel dieser Frauen ihr Pensum erhöhen. Was sie bremst? Insbesondere auch fehlende erschwingliche Betreuungsmöglichkeiten. «Zu hohe Elterntarife halten noch immer viele Mütter davon ab, stärker am Arbeitsmarkt teilzunehmen», erklärt Simon Wey, Chefökonom des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes (SAV). Ein gut ausgebautes und finanzierbares Drittbetreuungsangebot sei ein wesentlicher Beitrag, um Mütter in tiefen Pensen verstärkt im Arbeitsmarkt einzubinden. Das Potenzial der Frauen lässt sich übrigens beziffern: Gemäss Erhebungen liegt allein die mögliche Arbeitskraft von Müttern mit Kindern unter vier Jahren bei rund 15’000 Vollzeitstellen.

Simon Wey, Arbeitgeberverband
Zu hohe Elterntarife halten noch immer viele Mütter davon ab, stärker am Arbeitsmarkt teilzunehmen.

Entlastung der Eltern lässt BIP wachsen

Der positive Effekt endet nicht bei den Fachkräften. Eine Studie von BAK Economics im Auftrag der Jacobs Foundation aus dem Jahr 2020 zieht ein klares Fazit: Investiert die Schweiz in Betreuungsangebote, wächst das BIP. Konkret geht die Studie davon aus, dass über einen Zeitraum von zehn Jahren 21’000 zusätzliche Plätze in Kitas und Tagesfamilien geschaffen und die Elternbeiträge für alle reduziert werden. Den Staat kostet dies während zehn Jahren jährlich 794 Millionen Franken. Die Studie prognostiziert daraufhin einen langfristigen Anstieg des BIP um 3,4 Milliarden Franken jährlich. Das entspricht einer Steigerung von 0,5 Prozent.

BAK Economics im Auftrag der Jacobs Foundation, 2020
Investiert die Schweiz in Betreuungsangebote, wächst das BIP.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits sorgt ein ausgebautes, erschwingliches und qualitativ gutes Betreuungssystem dafür, dass Eltern höherprozentig arbeiten. Für Frauen lohnt sich das besonders: Neben dem Zusatzeinkommen erhalten sie längerfristig auch einen höheren Lohn. Dies wirkt sich wiederum positiv auf die Altersvorsorge aus und entlastet die Sozialwerke. Auf der anderen Seite stärkt eine qualitativ gute frühkindliche Betreuung in einer Kita gemäss der BAK-Economics-Erhebung die Kompetenzen des Kindes. «Studien zeigen, dass frühkindliche Bildung und Betreuung einen positiven Effekt auf die Entwicklung der Kinder haben, sowohl für ihre sozialen wie auch für ihre anderen Fähigkeiten», erklärt Min Li Marti.

Thema ist auf der politischen Agenda

Die Wissenschaft hat ihre Auslegeordnung also gemacht. Die Forderungen sind auf dem Tisch. Was heisst das nun aber konkret für Familien? Eine Antwort zu geben, ist nicht so einfach. Die Meinungen gehen politisch weit auseinander – von Status quo bis Vollausbau. Fest steht: Das Thema steht auf der politischen Agenda und lässt sich von dort nicht mehr streichen. Unterschiedliche Gremien arbeiten an Lösungen. Für den Arbeitgeberverband ist klar: «Der Staat muss Rahmenbedingungen in Form von steuerlichen Anreizen und bedarfsgerechten, qualitativ guten und finanziell attraktiven Kinderdrittbetreuungsangeboten sicherstellen und finanzieren.» Der Verband setzt sich in der parlamentarischen Allianz «familienergänzende Kinderbetreuung» für eine bessere Finanzierung ein. Die Motion von Min Li Marti hat der Bundesrat zur Ablehnung empfohlen. Das Parlament wird das Geschäft aber noch beraten.

Arbeitgeberverband
Der Staat muss Rahmenbedingungen in Form von steuerlichen Anreizen und bedarfsgerechten, qualitativ guten und finanziell attraktiven Kinderdrittbetreuungsangeboten sicherstellen und finanzieren.

Betreuungskosten sind ein Thema von nationaler Dimension

Deutliche Worte und konkrete Ansätze hat Alliance-F-Präsidentin Kathrin Bertschy: «Es braucht neue Lösungen und ein Umdenken. Kitas sind systemrelevant, und sie gehören zur Grundinfrastruktur.» Für die Ökonomin ist klar, dass die Thematik auf eine höhere Ebene gehört. Es könne nicht sein, dass jeder Kanton oder sogar jede Gemeinde ihre eigenen Regeln bei der Finanzierung habe. «Wir fordern einen nationalen Fonds, in den Bund, Kantone und Gemeinden anteilsmässig einzahlen und aus dem die Kosten gedeckt werden. So wie man das für andere Infrastrukturprojekte, etwa bei der Bahn, auch kennt.» Für die GLP-Nationalrätin steht fest, dass die Anteile der Eltern an den Kita-Kosten künftig massiv sinken müssen. Bei rund 30 bis 50 Franken pro Kind und Tag sollen sie liegen.

Kathrin Bertschy
Wir fordern einen nationalen Fonds, in den Bund, Kantone und Gemeinden anteilsmässig einzahlen und aus dem die Kosten gedeckt werden. So wie man das für andere Infrastrukturprojekte, etwa bei der Bahn, auch kennt.

Es sei Zeit, dass etwas passiere, betont Bertschy: «Dem Thema wurde viel zu lange die Wichtigkeit abgesprochen. Das liegt auch daran, dass in den Entscheidungsgremien nach wie vor hauptsächlich Männer sitzen, die Nachteile aus dem System aber vor allem die Frauen treffen. Damit muss jetzt Schluss sein.»