«Die Menschen müssen sich in Tausenden von Jahren erinnern. Wer sich den Zufall nicht denken kann, wird des Atommülls nicht Herr. Alle Koordinaten der Lager. Eine Warnung einschweissen in die DNA transgener Kakerlaken. Namen der eingelagerten Isotope. Festhalten, wie ein Unfall beginnt. In Tonplättchen zu ritzen.»
So eindringlich schreibt Annette Hug in ihrem neuen Roman «Tiefenlager». Sie macht sich über eine uns bedrohende Materie Gedanken, die vor allem künftige Generationen belasten wird. Die Schriftstellerin trifft damit mitten ins Herz einer Debatte, die uns in den kommenden Monaten beschäftigen wird. Wenn im Winter Strom und Gas knapp werden, das Echo eines Krieges, der wenige Tausend Kilometer Luftlinie von uns entfernt wütet. Wenn unter dem Druck des Krieges wieder Stimmen für Atomkraft laut werden.
Und am Ende des Austausches aller Argumente um Kosten, Energiebilanz oder Speicherungsmöglichkeiten des Stroms wird eines unumstösslich ungelöst bleiben: Bis heute existiert keine Lösung, was mit den ausgedienten hochgiftigen, jahrhundertelang strahlenden Brennstäben geschehen soll. Besonders, wenn man sie im eigenen Land lagert und nicht etwa auf den Mars schiesst (was man wohl in Erwägung ziehen würde, wäre es technisch möglich) oder auf einem abgeschiedenen Südseeatoll ablädt.
Wenn wir also entgegen den Mechanismen der «Externalisierungsgesellschaft» handeln, in der wir leben, und das Ausgebrannte hierbehalten. Externalisierungsgesellschaft. Ein Begriff, der vom deutschen Soziologen Stephan Lessenich geprägt wurde und bedeutet, dass wohlhabende Nationen die Folgen ihres Konsums entweder ans andere Ende der Welt auslagern – oder aber denen aufbürden, die nach uns kommen. Oder sehr oft auch: beides.
Ein Vorschlag, was wir mit den Brennstäben aus der Schweiz anstellen könnten, wird im September von der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, kurz Nagra, präsentiert. Nach jahrelanger Prüfung wird dann entschieden werden, wo eines der weltweit ersten Tiefenlager für Atommüll gebaut werden soll. Favoriten sind derzeit die drei Standorte Jura Ost, Zürich Nordost oder Nördlich Lägern. Begleitet wird der kommunikative Prozess um dieses hochwissenschaftliche und ernste Thema von Storytelling und Gamification an Schulen.
Und seit kurzem auch von «500+», einem hochkarätig besetzten «Jahrhundertmagazin», umgesetzt von einer Zürcher Agentur. «Wir freuen uns auf eine intensive thematische Auseinandersetzung», lässt sich «Schroten»-Mitgründerin und Kolumnistin Michèle Roten zitieren. «Es geht gleichermassen um Emotionen wie um Wissenschaft, Technologie, politische Prozesse aber auch ethisch-moralische gesellschaftliche Fragestellungen. Wir freuen uns, im Rahmen dieses Projekts viele verschiedene Aspekte auszuleuchten.» Selbst einer der Nagra-Kritiker der ersten Stunde, der Geologe und Sozialwissenschaftler Marcos Buser, wird in das hippe Magazin eingebunden. Und bei den ganzen «Emotionen» geht der wichtigste Punkt unter.
Warum wurde in der Schweiz nie wirklich eine gesellschaftliche Debatte darüber geführt, warum die Abfälle in der Tiefe vergraben werden sollen? Nicht mehr rückholbar, unwiederbringlich. Und dies bei derzeit noch immer ungenügendem Stand von Wissenschaft und Technologie. Warum wird nicht das weiterhin praktiziert, was in den letzten 40 Jahren erfolgreich erprobt wurde: eine gut gesicherte Lagerung an der Oberfläche. Wo jederzeit eingegriffen werden kann, wenn es Probleme gibt. Ein Mahnmal für den Preis der Energie statt «aus den Augen, aus dem Sinn». Und so bleibt uns auch die Aufgabe erspart, herauszufinden, wie man Warnungen in die DNA transgener Kakerlaken einschweisst. Wie sagte Albert Einstein einst prophetisch: Der vierte Weltkrieg wird wieder mit Stöcken und Steinen ausgetragen. Doch noch sind wir selbst die besten Wächter.