Ich war nie gut in Biologie. Spätestens seitdem mich der Bio-Lehrer nötigte, mit ihm vor der gesamten Klasse den Schwänzeltanz von Bienen bei der Futtersuche vorzuführen, wohnte ich dem Unterricht mit einer Mischung aus Scham und demonstrativer Verachtung bei.
Die Bio-Matur habe ich dann doch irgendwie bestanden. Und mich seither nie mehr vertieft mit dem Fach auseinandergesetzt. Bis vor kurzem. Denn in den letzten Monaten wurde ich temporär zur Fortpflanzungsexpertin, zur Geschlechterforscherin und zur Evolutionsbiologin. Zumindest las ich plötzlich Texte über Gameten, Gonaden – also Geschlechtszellen – und viele weitere Begriffe, die ich in den letzten Jahrzehnten erfolgreich verdrängt oder von denen ich noch gar nie in meinem Leben gehört hatte. So zum Beispiel auch das sogenannte Hirngeschlecht. Und ich bin wohl nicht die einzige, der es so geht. Oder ist an irgendjemandem von euch die Debatte darüber, wie viele Geschlechter es gibt, vorbeigezogen? Wagt es irgendjemand, keine Meinung darüber zu haben oder gar zuzugeben, dass sie keine Ahnung davon hat, wie viele Geschlechter es «denn nun wirklich gibt»?
Mir wurde es irgendwann zu viel. Vielleicht stiess ich an die Grenzen meiner kognitiven Kapazität. Oder vielleicht siegte auch einfach meine Denkfaulheit. Jedenfalls fragte ich mich: Was soll das? Muss ich mich wirklich in die Tiefen von wissenschaftlichen Disziplinen begeben, von denen ich keine Ahnung habe, um mir eine Meinung zur Frage zu bilden, welche Rechte wir trans Menschen zugestehen wollen? Und habe ich irgendeinen Anspruch darauf, dass meine Einschätzung zum naturwissenschaftlichen Forschungsstand von Menschen, die sich vollberuflich damit befassen, ernst genommen wird?
Die Antwort lautet zweimal Nein.
Zuerst zu Letzterem: Ich habe volles Mitgefühl und Verständnis für alle Biolog:innen etc., die irgendwann genug davon haben, sich mit Fachfremden über die Basics ihrer Disziplin zu streiten. Es geht hier nicht um Interdisziplinarität. Interdisziplinarität würde bedeuten, dass Menschen aus verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten. Wenn ich hingegen als Ethikerin einer Biologin erkläre, dass es gemäss meinen Erkenntnissen der letzten Monate – basierend auf Zeitungsartikeln und Debatten auf Social Media – genau 6.5 biologische Geschlechter gibt und deshalb jegliche Gesellschaftsordnung, die auf 3.2 biologischen Geschlechtern beruht, diskriminierend ist, wäre das schlichtweg eine Einmischung. Ich würde mich in Dinge einmischen, von denen ich keine Ahnung habe. Kurz: Meine Meinung hierzu spielt keine Rolle und verdient keine ernsthafte Auseinandersetzung.
Nun zur Frage, warum ich finde, dass ich die Naturwissenschaften ausblenden darf, wenn ich mir eine Meinung zur Frage von Rechten für trans Menschen bilde. Die Frage, welche Rechte trans Menschen in unserer Gesellschaft haben, ist eine moralische Frage. Gefordert wird moralische Gleichheit aller Menschen unabhängig von Geschlecht und Geschlechtsidentität. Und Forderungen nach moralischer Gleichheit von Menschen können sich nie auf faktische Beobachtungen stützen. So sagte es schon der australische Moralphilosoph Peter Singer. Denn Menschen gibt es immer in unterschiedlichen Formen und Grössen; und mit verschiedenen Gonaden, Gameten, hormonellen Ausstattungen, von mir aus sogar Hirngeschlechtern. Wenn die Forderungen nach Gleichbehandlung aller Menschen auf der tatsächlichen Gleichheit aller Menschen basieren würden, müssten wir aufhören, Gleichheit zu fordern, so Singer. Es wäre eine ungerechtfertigte Forderung.
Singer nennt es gar verrückt, moralische Forderungen an bestimmte naturwissenschaftliche Ergebnisse zu knüpfen. Wissenschaft ist ein Prozess. Wenn wir unsere Überzeugungen ausschliesslich von bestimmten empirischen Forschungsergebnissen abhängig machen, müssten wir immer fürchten, dass sie von neuen Erkenntnissen über Bord geworfen werden.
Ich verstehe deshalb nicht, warum sich gerade bei der Debatte über Rechte von trans Menschen Vertreter:innen egal welcher Meinung derart die Köpfe einschlagen bei der Frage nach der Anzahl Geschlechter. Egal, auf welche Zahl sie sich versteifen, sie machen sich damit unnötig verletzlich. Warum orientieren sie sich in ihren politischen Forderungen nicht an einem moralischen Ideal statt an wissenschaftlichen Komplexitäten, die sie selbst häufig nicht im Detail verstehen?
Die Antwort auf die moralische Frage, welche Rechte trans Menschen haben sollen, hängt nicht davon ab, wie viele Gameten es gibt, sondern davon, wie wir unser menschliches Zusammenleben gestalten wollen. Mit wenigen Ausnahmen, vor allem im medizinischen Kontext, zwingt uns dabei niemand, dieses Zusammenleben nach biologischen Tatsachen auszurichten. Es steht uns frei, zu entscheiden, ob angeborene oder chirurgisch hergestellte weibliche Geschlechtsorgane das Kriterium für den Zutritt zu einer Frauensauna sind oder ob es reicht, wenn jemand durch einen Gang zur Behörde sein Geschlecht im Ausweis ändert. Um diese Fragen zu klären, müssen wir nichts von Gameten wissen, geschweige denn verstehen.
Hören wir also auf, uns gegenseitig mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu bombardieren, um moralische Forderungen durchzusetzen. Und wenn jemand Rechte von Menschen mit Verweis auf eine scheinbar endgültige naturwissenschaftliche Wahrheit fordert oder ablehnt, antworten wir wie folgt – und dabei hilft wieder Singer: Der Anspruch auf moralische Gleichheit aller Menschen hängt weder von Intelligenz, noch von körperlicher Stärke oder eben Gameten, Gonaden oder ähnlichen Tatsachen ab. Die Gleichheit von Menschen ist ein moralisches Ideal und keine Tatsachenbehauptung. Entsprechend hängt der Grundsatz der gleichen Rechte für alle Menschen nicht von der tatsächlichen Gleichheit aller Menschen ab, sondern er beschreibt, wie wir Menschen behandeln sollen.
In diesem Sinne: Ich lege meine biologischen Fachartikel zur Seite. Ich habe sie ja eh nie verstanden. Die Untersuchung von Gameten und Gonaden überlasse ich den Biolog:innen. Die gesellschaftliche und politische Debatte über die Rechte von trans Menschen verfolge ich weiterhin gespannt und bilde mir meine Meinung. Nach bestem Wissen und Gewissen, unter Berücksichtigung verschiedener Werte und Abwägung verschiedener Normen und Interessen. Genauso wie ich es bei allen anderen moralischen Fragen auch tue. Und ihr?