Wer in den letzten Monaten auf Google nach Krimskrams gesucht hat – von Einrichtungsgegenständen über Kleider bis hin zu Elektronik oder Putzgeräten – ist kaum an den chinesischen Schnäppchen-Shops wie Temu, Shein oder Wish vorbeigekommen.
«Edelstahl-Knoblauchpresse» für 2.99 Franken? Nein danke!
Die Billiganbieter aus dem Fernen Osten haben zumindest auf meinem Computer alle Google-Werbung aufgekauft und fluten das Netz mit ihren Produkten. Deren Preise sind so tief, dass man – je nach persönlicher Veranlagung – entweder vor Freude oder vor Entsetzen kreischt. Ich gehöre zu Letzteren. Ein «lässiges Kurzarm-T-Shirt» für Frauen für 6.69 Franken? Eine «Edelstahl-Knoblauchpresse» für 2.99 Franken? Ein «wasserdichter Herren-Rucksack» für 13.38 Franken? Mich schaudert es.
Warum? Ganz einfach: Bei diesen Preisen ist es schlichtweg unmöglich, dass die Menschen, die diese Produkte herstellen, verpacken, verschiffen und so weiter, fair entschädigt werden. Respektive: Selbst wenn die Löhne entlang der Wertschöpfungskette irgendeinem wie auch immer berechneten Mindestlohn entsprechen würden, wäre es kaum vorstellbar, dass Anbieter:innen, die in diesem weltumspannenden Ramsch-Karussell mitmischen, noch Geld haben, um beispielsweise in Gesundheit und Sicherheit der Angestellten zu investieren.
Ebenfalls nicht gedeckt sind die ökologischen Kosten bei dieser Billigware. Wie gross die Diskrepanz zwischen Ladenpreisen und «wahren Kosten» sein kann, führte diesen Sommer ausgerechnet der deutsche Discounter Penny seiner Kundschaft vor Augen. Penny wirbt üblicherweise mit stilistisch unschlagbaren Slogans wie «Wer günstig will, muss Penny». Zwischenzeitlich wechselte Penny aber von günstig zu ehrlich. Während einer Woche wurden nämlich neun ausgewählte Produkte zu «wahren Preisen» verkauft.
«Ehrliche Preise» bedeuten: Würstchen für 6 statt 3 Euro
Die wahren Preise bilden die externen Kosten ab, die durch die Produktion der Artikel entstehen. Dabei ging es vor allem um Umweltschäden wie klimaschädliche Emissionen oder Belastungen des Bodens oder des Grundwassers durch Düngemittel. Bei Penny betrug die Differenz zum normalen – oder sollte man sagen «erlogenen»? – Preis je nach Artikel bis zu 94 Prozent. Wiener Würstchen kosteten plötzlich 6.01 Euro statt bisher 3.19 Euro. Ob die Kampagne gewirkt hat und wenn ja, wie nachhaltig, bleibt abzuwarten.
Aber sie erinnerte mich an meine Projekte zur Nachhaltigkeit von Bananen in der Vergangenheit. Schon in den 1970er-Jahren wurde diskutiert, ob der Bananenhandel fair ist, das heisst, ob er eine faire Entschädigung aller Beteiligten sowie einen ökologisch nachhaltigen Anbau in den Herkunftsländern abdecken kann. Da viele die Frage mit Nein beantworteten, wurden Bananen zum ersten Fairtrade-Produkt der Welt.
Bananen = Vorzeigeprodukt im Fairtrade?
Trotzdem ist ein Grossteil des Bananen-Angebots weit entfernt von wahren Preisen. Der Fluch von Bananen liegt darin, dass sie eines der wichtigsten Produkte im Preiskampf zwischen Lebensmittelhändler:innen in westlichen Ländern sind. Sie werden von einigen Einzelhändler:innen sogar als «Verlustbringer» verkauft. Das heisst: Tiefe oder sogar verlustbringende Bananenpreise sollen Menschen in die Läden locken, in der Hoffnung, dass sie dort dann andere, profitablere Artikel kaufen. Schon mal darauf geachtet, welche Nummer die Banane im Offenverkauf auf der Waage hat? Die 1. Ein Schelm, wer Böses denkt.
Ich ärgere mich deshalb bis heute, wenn zum Beispiel die Migros plötzlich M-Budget-Bananen mit dem provokativen Slogan «Viel Gelb für weniger Geld» verkauft. Und zwar für 1.50 Franken pro Kilo. Ich unterstelle der Migros nicht, dass sie den Preis auf Kosten von Nachhaltigkeit senkt. Aber die Frage sei trotzdem erlaubt: weniger Geld für wen oder was genau?
Vor ein paar Jahren errechnete ein Bananen-Branchen-Profi, dass der Preis von konventionellen Bananen bei 2.29 Euro pro Kilo und bei «vollkommen nachhaltigen Bananen» bei 2.49 Euro pro Kilo liegen sollte. Ich überlasse es euch, die Differenz zu den 1.50 Franken für die Bananen bei Migros (M-Budget), bei Coop (Prix Garantie) und Denner zu berechnen.
Stolperstein Kartellrecht
Nun scheint es auf der Hand zu liegen, wie wir Klarheit darüber bekommen könnten, ob die Billigbananen und andere Schnäppchen auf Kosten von Arbeiter:innen und Umwelt in unseren Warenkorb kommen: Wir brauchen einfach Transparenz über die Wertverteilung entlang der Lieferkette. Wer verdient wie viel an Budget-Bananen, an Ramsch-T-Shirts, an Plastikrucksäcken? Wo wird Marge abgeschöpft? Für wen geht die Rechnung nicht auf?
Tja, ich muss euch enttäuschen. Der Wunsch ist naiv. Bühne frei für das Kartellrecht. Dieses verbietet Unternehmen, öffentlich über ihre Preispolitik und Preisgestaltung zu reden. Würden sie diese Informationen veröffentlichen, würde das angeblich als Vorstufe zur Kartellbildung eingestuft. Und Kartelle sind böse, so die ökonomische Logik. Sie erzeugen volkswirtschaftlichen Schaden. Dass die gesetzlich verordnete Geheimnistuerei Schaden für Umwelt und Menschen ausserhalb der Schweizer Volkswirtschaft ermöglicht, scheint hier vergessen zu gehen.
Tatsache ist: Ich habe im Kontext von Nachhaltigkeitsinitiativen mit eigenen Augen erlebt, wie Vertreter:innen von Import und Einzelhandel peinlichst darauf bedacht waren, sich aus jeglichen Diskussionen über die Preisgestaltung und Werteverteilung herauszuhalten. Auf keinen Fall sollte der Regulator den Verdacht schöpfen, dass hier unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit eine Preisabsprache getroffen würde. Ob diese Befürchtungen vor der Justiz realistisch sind, sei dahingestellt. Das Kartellrecht liefert jedenfalls immer auch geschickte Ausreden, um unangenehme Diskussionen zu vermeiden.
Wie auch immer: Solange wir keine Transparenz haben, können wir die «wahren Preise» bestenfalls schätzen. Und als letzte Möglichkeit bleibt noch der Rückgriff aufs Bauchgefühl. Dieses ist zwar gerade bei Nachhaltigkeit oft kein zuverlässiger Ratgeber, aber mal ganz ehrlich: Wer sich vor dem Einschlafen in der geblümten Bettwäsche für 16.43 Franken auch nur eine Sekunde Gedanken macht über ihre Produktion, wird eventuell eher unruhig schlafen.