In hohen Metallgestellen leuchtet ein wilder Mix an Materialien um die Wette: Grüne Apothekerflaschen, pinke Glaskugeln und grelle Stoffe. Goldige Bilderrahmen, blaue Mosaikplättli, Arme oder Beine von nackten Modepuppen.
Materialien in allen Farben und Formen, wie sie im Offcut Basel zu finden sind. Hier geht es darum, Werkmaterialien wiederzuverwerten, anstatt sie wegzuwerfen, sie für Kunst zu gebrauchen, für Wohnungsdeko, Bastelstunden, Girlanden - für was auch immer. Offcut bedeutet übersetzt Überreste und Abschnitte. Sie werden allesamt gespendet, von Firmen, Handwerksbetrieben, Kunstateliers oder Privatpersonen. Von Beginn weg wurde das Unternehmen mit Waren überflutet.
Die 37-jährige Tanja Gantner hat das Broki für Material 2013 mitgegründet und ist heute die Geschäftsführerin. Es ist eine Mischung aus Baumarkt, Nähladen und Papeterie - und feiert nächstes Jahr bereits sein 10-jähriges Jubiläum. Dank dem Migros-Pionierfonds gibt es mittlerweile ein ganzes Schweizer Netzwerk; Kreativmärkte gibt es in Zürich seit 2018, in Bern seit 2020 und letztes Jahr wurde einer in Luzern gegründet. Diese werden eigenständig von lokalen Vereinen geführt, sind aber über die Offcut-Genossenschaft mit dem Basler Gründerladen verbunden. Jeder Verein hat sein eigenes Standbein. Überall aber lautet das Credo: Was hier landet, muss ein kreatives Potenzial haben.
Wer Materialien liebt, ist hier genau richtig
Wir sitzen im Gleisbogen auf dem Basler Dreispitzareal in der neuen Halle des Offcut, der Umzug in das hölzerne Industriegebäude fand erst im August letzten Jahres statt, die Kisten sind noch nicht komplett ausgeräumt, und werden es vielleicht auch nie sein. Unordnung gehört hier zum System, sich immer wieder neu erfinden auch.
Unordnung gehört hier zum System, sich immer wieder neu erfinden auch.
«Ich habe einen Materialfetisch», sagt die Wahlbaslerin Gantner im Zürcher Dialekt. Und: «Wenn jemand gerne Material hat, ist diese Idee mega cool.» - Diese Idee, entstanden auf den Treppen des Basler Rheinufers, «als man noch am Rhein sass», scherzt Gantner - in unseren jungen Jahren, voller Tatendrang. Ihre Freundin Simone Schelker, mit der sie zusammen den Vorkurs an der Basler Kunsthochschule gemacht hatte, erwischte sie zum richtigen Zeitpunkt. «Sie fragte mich, ob ich mit ihr einen Secondhand-Materialmarkt aufbauen wolle. Und ich sagte sofort zu.»
«Ich war blauäugig, aber ich hatte gleich eine Vorstellung davon, wie so ein Markt aussehen könnte», so Gantner. «Ich bin nicht die Handwerkerin, auch nicht die Künstlerin, aber es gefällt mir, das Zeugs in den Händen zu halten, es zu sortieren.»
Simone Schelker hatte die Idee aus Australien mitgebracht, wo es sogenannte Material Markets schon seit den 1970er-Jahren gibt. Es ist die Idee von Reverse Garbage. Damals war Upcycling noch ein unbekanntes Konzept. Heute richten sich viele Mode- und Designbranchen danach. Der englische Begriff setzt sich aus den Wörtern up – «nach oben» und recycling – «Wiederverwertung» zusammen. Er steht für die Umwandlung von vermeintlichen Abfallprodukten oder Altware sowie unbrauchbaren Stoffen in neuwertige Produkte. So wird die Neuproduktion und Verwendung von Rohmaterialien reduziert und Ressourcen gespart. Alleine am Standort Basel wurde seit 2013 grob geschätzt über 60 Tonnen Werkstoffe vor der Mülltonne gerettet.
Auch wenn dieser weltverbessernde, grüne Aspekt nicht jener war, der Gantner in das Projekt gezogen hatte, heute ist er dennoch ein wichtiger Treiber. Offcut bedient auch den Zeitgeist. Die Philosophie der Wiederverwertung feiert Hochkonjunktur. Der kreative Materialmarkt Offcut ist «eine Art Zwischenstation, bis es irgendwann gar keinen Abfall mehr gibt, als eine Art urbane Materialmine», sagt Gantner. Bis es soweit ist, dürfte es allerdings noch einen Moment dauern: Laut einer neuen KOF-Studie setzen heute erst 10 Prozent der Schweizer Unternehmen Aktivitäten im Bereich der Kreislaufwirtschaft um.
Jahre der harten Arbeit zahlen sich aus
Auf den Startschuss folgten Jahre der harten Arbeit. Doch die Gründer:innen und ersten Mitarbeitenden haben schnell gemerkt: «Wir machen etwas mega Wichtiges.» Gantner, die nach wie vor mit an Bord ist, sagt rückblickend: «Wir sind das Projekt ernsthaft angegangen und haben es durchgezogen.» Ihr Pioniergeist, die Hartnäckig- und Sorgfältigkeit haben sich ausgezahlt. Sie erhalten heute mehr Wertschätzung und damit Aufmerksamkeit, was auch mehr Kundschaft bringt. Gantner wird beispielsweise als Keynote Speakerin nach Deutschland eingeladen, wo man mit grossen Augen auf das Schweizer Offcut-Netzwerk schaut.
Auch finanziell steht das Offcut Basel dank einem Betriebsbeitrag der Christoph-Merian-Stiftung sowie dem stetigen Umsatzwachstum solide da. Und nach wie vor ist viel Ideologie und Herzblut dabei: Gantner und ihr Team werden von Freiwilligen beim Aufbereiten und Einsortieren unterstützt, im Gegenzug erhalten diese Material. Die Löhne für die Festangestellten ergeben sich aus dem Materialverkauf; im Moment reicht dieser nur für den Mindestlohn. Ihr eigener Lohn ist ein kleines bisschen höher, sagt Gantner, die das Thema zu beschäftigen scheint. Sie ist sich der Problematik bewusst: «Mit hochmotivierten und engagierten Menschen für die Sache gibt es immer auch einen Spielraum für Selbstausbeutung. Dies macht das Ganze längerfristig betrachtet schwierig.»
Das Sortiment wechselt ständig - es wird in die vier Kategorien Textilerie, Papeterie, Gestalterie und Werkerei eingeteilt. Die Preise errechnen sich nach Gewicht oder Grösse, verlangt wird ungefähr die Hälfte des Neuwerts. Die Kund:innen müssen einen offenen Geist mitbringen und bereit sein, ihre Projekte dem Angebot anzupassen.
«Es braucht eine forschende Sicht», findet Gantner. Wer in den Laden kommt, wird von fachkundigem Personal beraten, sofern das Besucheraufkommen nicht zu hoch ist. Künstler:innen und Bastler:innen hinter dem Tresen unterstützen dabei, wie die mitgebrachten Ideen umgesetzt werden können. «Beratung ist das A und O», so Gantner schliesslich. Mit ein Grund, warum das Offcut mit der Digitalisierung seine Mühe hat. «Digitalisierung funktioniert hier nicht, unser Geschäftsmodell ist zu manuell.»
Neues Werkatelier für nachhaltige Szenografie Offcut Zürich hat 2020 ein Werkatelier für nachhaltige Szenografie gegründet, wo hauptsächlich mit eigenen Offcut-Materialien Skulpturen und Objekte gebaut werden. Die ersten Projekte haben die Künstler:innen unter der Leitung des gelernten Szenografen Silvan Kuhl für das Food-Festival Bridge umgesetzt. An der Europaallee konnten unter anderem Blumen- und Meereswelten bestaunt werden. Kuhl sagt, die Projekte erlaubten ihm, den ökologischen und gestalterischen Anspruch miteinander zu verbinden. «Es ist eine andere Art zu denken.» Konkret: vom vorhandenen Material ausgehend. Gestaltung und Umsetzung sind dadurch stark miteinander verknüpft. Gefragt ist vor allem Flexibilität. Kuhl spricht von einem «zeitintensiven Experimentierfeld». Während die Materialkosten sinken, steigen die Arbeitsstunden. Damit wird die Kreislaufwirtschaft noch ein Stück weiter gedacht.