Ticktack, jede Sekunde landet durchschnittlich die Menge einer LKW-Ladung an Kleidung und Accessoires auf Mülldeponien oder wird verbrannt. Eine Studie aus dem Jahr 2017 der Ellen MacArthur Foundation rechnet vor, welchen Einfluss günstige Materialien und der damit verbundene Überkonsum auf die Umwelt haben. Dabei ist Überkonsum fast untertrieben: Laut der Organisation Fashion Revolution kaufen wir als Gesellschaft heute 400% mehr Kleider als vor 20 Jahren und kurbeln so eine Industrie an, die mehr CO2-Emissionen als die Schiff- und Flugindustrie zusammen verursacht.
Onlineshopping ist ein zusätzlicher Booster für den Überkonsum, der bittere Beigeschmack sind die Rücksendungen: In der Schweiz wird laut einer Studie der Post und der Hochschule Luzern (HSLU) jeder fünfte Mode-Artikel zurückgeschickt. «Hat nicht gepasst» – man kennt’s. Rücksendungen sind insbesondere deswegen problematisch, weil die Bearbeitung aufwendig ist, es zu einem erhöhten CO2-Ausstoss durch die Transporte kommt und ein Verschleiss von Verpackungsmaterialien entsteht. Doch wo die Dringlichkeit eines Problems wächst, steigt das Potenzial von Innovation. Immer mehr Start-ups und Modeunternehmen nutzen Künstliche Intelligenz und 3D-Modellierungen. Das Ziel: Weniger Retouren von Kleidung, weil Grösse oder Schnitt nicht gepasst haben, Konsument:innen bei bewussteren Kaufentscheidungen unterstützen und so den CO2-Ausstoss der Modeindustrie reduzieren.
So teuer und umweltbelastend sind Retouren von Online-Bestellungen
Sind Konfektionsgrössen nicht divers genug? Knapp 90 Prozent der Konsument:innen geben laut der Umfrage der Post und der HSLU als Retourengrund an, dass der Artikel nicht ihren Erwartungen entspricht. Das Hauptproblem ist laut der Studie die falsche Grösse.
Die naheliegendste Antwort auf die Frage «Passt mir das?» ist beim Onlineshopping die Analyse der Grössentabelle – die offensichtlich nicht ausreichend ist. «Heute sieht jeder Online-Shop 1:1 wie ein Katalog aus», sagt Stefan Hauswiesner, Co-Founder und CEO von Reactive Reality: «Ich schätze, dass sich Onlineshops künftig in Richtung virtuelle Umkleidekabinen entwickeln, in denen Kund:innen mit personalisierten Avataren jedes Produkt anprobieren und kombinieren können.» Hinter dieser These steht mehr als eine Annahme. Mit Reactive Reality hat Hauswiesner die weltweit fortgeschrittenste Software für Virtual Reality entwickelt, die es Modeunternehmen ermöglicht, virtuelle Anproben direkt im Webshop anzubieten. Unternehmen wie Hugo Boss nutzen diese Lösung bereits für ausgewählte Produkte. Anstatt die Grössentabellen zu studieren, erstellt man sich mit wenigen Klicks und über die Angaben seiner Grösse, Gewicht und Masse seinen Avatar. Diese virtuelle Person probiert vom Pullover bis zu den Schuhen die gesamte Produktpalette durch.
Kann die virtuelle Anprobe die physische Garderobe im Laden ersetzen?
Was auf dem Screen spielerisch von der Hand geht, ist technisch hochkomplex. Mehr als neun Jahre hat das Forscher:innen-Team von Reactive Reality daran gearbeitet. Das Unternehmen, das seinen Sitz fernab von der Konkurrenz in Graz hat, ist inzwischen zum Technologieführer avanciert: «Wir sind stolz auf unsere Pionier-Arbeit und auf die Details der Technologie, die sogar erkennt, ob die Hose auch passt, wenn das T-Shirt hineingesteckt wird», sagt Hauswiesner. Dass Virtual Reality die gewohnten physischen Shopping-Touren komplett ersetzen wird, glaubt Hauswiesner jedoch nicht. «Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass Virtual Reality mit dem Einkaufen im Laden verschmelzen und uns dabei unterstützen wird, bessere Kaufentscheidungen zu treffen.» Die Technologie bietet das Unternehmen deshalb auch für Smart Mirrors an, die im Laden platziert werden können. In diesen Spiegeln sieht man als Kund:in den eigenen Avatar, dem man verschiedene Looks anprobieren und personalisieren kann. Damit ermöglicht die Virtual-Reality-Technologie, dass Kund:innen Kleidung kaufen können, die noch nicht produziert wurde und erst beim Kauf in die Produktion geht. Immer mehr Hersteller wie das Jeanslabel Unspun oder die britische Marke Olivia Rose the Label bieten diese Möglichkeit an, um Überproduktionen entgegenzuwirken.
Der Ursprung des Problems liegt im Design
Trotz neuer Technologien wird Mode aber noch immer zu viel und zu schnell produziert. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die Fast-Fashion-Industrie. Dazu zählen beispielsweise Unternehmen wie SheIn, Zara oder Primark. Sie kurbeln das Tempo in der Modebranche an. Das Resultat: Über 100 Milliarden Kleidungsstücke werden jährlich produziert, wobei ein geschätzter Wert von 2,1 Billionen US-Dollar an Mode weltweit ungenutzt in privaten Schränken und Lagerhäusern liegt. Dabei wird klar: Die Komplexität des Problems kann nicht durch virtuelle Anproben und Smart Mirrors allein gelöst werden.
Schätzungen der Europäischen Union zufolge werden über 80 Prozent aller produktbezogenen Auswirkungen auf die Umwelt bereits in der Entwurfsphase eines Kleidungsstücks bestimmt. Hierzu lohnt es sich die Frage zu stellen: Für wen werden die Kleider designt, und an wem werden sie gezeigt? Michael Musandu, Gründer des in Amsterdam ansässigen Fashion-Tech-Start-ups Lalaland.ai, ist überzeugt: «Niemand sollte im Online-Shop einkaufen, ohne sich dabei repräsentiert und wohl zu fühlen. Bei mir kommt der bittere Beigeschmack hinzu, dass ich in Online-Shops kaum schwarze Models sehe, geschweige denn Models mit meinem Körpertyp.»
Für den Gründer mit Wurzeln in Simbabwe ist es eine logische Konsequenz, dass ein nachhaltiger Wandel der Modeindustrie beim Design beginnt. Mit seiner KI-basierten Technologie entwickelt Musandu eine Lösung für Modeunternehmen, die Design-Prozesse digitalisiert und es ermöglicht, Kleidung passend für verschiedene Körpertypen und Kundenbedürfnisse zu gestalten. Konkret können Designer:innen 3D-Modelle der Kleidung für unterschiedliche Avatare erstellen, die Stücke nach Belieben anpassen und basierend auf Kund:innendaten personalisieren. «Damit erschliessen sich nicht nur Chancen in der Vielfalt des Designs, ein Design-Team muss auch weniger Prototypen produzieren. Das spart Material und Abfall», betont Musandu. Auch der Impact auf Kund:innen-Seite sei entscheidend, da diese sich im Online-Shop mit den verschiedenen Avataren besser identifizieren können: Die generierten Designs können an einer Vielzahl von Avataren gezeigt werden und im Online-Shop als Produktbilder dienen – ohne aufwendige Shootings mit verschiedenen Personen. «Unsere Vision ist es, Nachhaltigkeit, Diversity und soziale Repräsentation zum Standard im Design zu machen und dadurch bewusstere Kaufentscheidungen zu ermöglichen.»
3D-Modelle sollen Zeit und Material sparen
Ein ähnliches Ziel verfolgt Anna-Franziska Michel. Mit yoona.ai entwickelt sie eine Software-Lösung für Modeunternehmen, die den Designprozess auf wenige Klicks verkürzt, dank eines 3D-Modellierungs-Tools. Konkret verarbeitet die Software Bild- und Textdaten, Skizzen sowie Daten zum Kund:innenverhalten. Auf dieser Basis erstellt sie kund:innenzentrierte Designs sowie produktionsfertige Kleidungsstücke und Accessoires. Die Technologie reduziert umfangreiche Testschleifen und das Erstellen von Prototypen. So sollen laut der Berliner Gründerin neue zeitliche sowie materialbedingte und finanzielle Einsparpotenziale geschaffen werden.
Mit ihrer Technologie unterstützt Anna-Franziska Michel bereits Unternehmen wie Gerry Weber. «Mit einer Digitalisierung des Designprozesses können wir den Aufwand von 67’000 Arbeitsstunden pro Jahr auf 9600 Stunden reduzieren», bestätigt Michel. Doch damit nicht genug: Mit ihrem Engagement setzt die Gründerin ihre Stimme aktiv in der Start-up-Welt ein und hat die hybride Digital-Fashion-Konferenz Yoonaverse ins Leben gerufen. Sie vernetzt Start-ups und Modeunternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette in Workshops und im digital erschaffenen Yoonaverse-Metaverse miteinander. «Die Fashion-Tech-Branche ist sehr komplex und an vielstufige Lieferketten gebunden, und ich habe seit meiner Gründung erfahren, wie schwierig es ist, in diesem Bereich Fuss zu fassen.»