Mit Sitzblockaden und Spruchbändern die Welt retten. Das versucht Rosmarie Wydler-Wälti schon seit anno 1974, als sie zum ersten Mal in Kaiseraugst gegen Atomkraft auf die Strasse zog. Die 71-Jährige ist eine Schweizer Umweltschützerin der ersten Stunde, die auch 2021 nicht daran denkt, das Megafon aus der Hand zu geben: “Als Babyboomer:innen sind wir mitschuldig an der Klimakatastrophe. Es wäre verantwortungslos, tatenlos zuzuschauen, wie unsere Welt weiter kaputt geht”, sagt sie zu elleXX.

Frauen demonstrieren, Männer dirigieren

Wie Rosmarie zieht es Jahr für Jahr Hunderttausende von Frauen an Demonstrationen, um gegen menschgemachte Umweltzerstörung zu protestieren. Männliche Aktivisten sucht man unter den Protestierenden länger. So ist die Bewegung Fridays-for-Future laut Befragungen zu mehr als 65 Prozent weiblich. An den Verhandlungstischen der globalen Klimapolitik sieht das Geschlechter-Verhältnis ganz anders aus. In den sicheren und wohltemperierten Gebäuden, wo die grossen Entscheidungen zur Klimazukunft des Planeten getroffen werden, sind Frauen in der Unterzahl. Weltweit sind 75 Prozent der Parlamentarier Männer und nicht einmal zwei Dutzend Regierungschefinnen stehen zehnmal so vielen Regierungschefs gegenüber. Und auch bei den 200 umsatzstärksten globalen Unternehmen dürfen sich laut Forbes nur 23 Frauen CEO nennen.

Armut ist weiblich

Diese Macht in den Händen der Männer steht in einem drastischen Missverhältnis zur Wucht, mit der Frauen den Klimawandel zu spüren bekommen. Frauen und Mädchen leiden weltweit besonders stark unter den direkten und indirekten Folgen von Hochwasser, Hitzewellen, Stürmen und Dürren. Das halten zahlreiche aktuelle Studien und Untersuchungen fest.

Wieso ist dem so? Natürlich steuert eine Flutwelle oder ein Wirbelsturm nicht bewusst häufiger auf Frauen zu. Der Zusammenhang ist komplex und zeigt sich je nach Region und Naturkatastrophe in ganz unterschiedlicher Form und Dramatik. Vielfach zerstört der Klimawandel Ressourcen wie fruchtbares Land und Wohnraum. Da Frauen und Mädchen sowieso schon weniger davon besitzen oder nutzen dürfen, leiden sie mehr. Die Gründe für den Mangel an Ressourcen sind kulturell, ökonomisch und sozial bedingt. Gender ist jedoch nur ein Faktor, der beim Thema Klimagerechtigkeit mitgedacht werden muss. Er ist eng verknüpft mit Armut. 70 Prozent der 1.3 Milliarden Menschen, die in Armut leben, sind Frauen. Und Armut trifft Frauen im globalen Süden besonders hart.

Gewalt gegen Frauen steigt nach Naturkatastrophen


Ein Bericht der Weltnaturschutzunion IUCN von 2020 zeigt eine besonders dramatische Folge des Klimawandels für Frauen auf: Nach Naturkatastrophen nimmt die Gewalt gegen Frauen zu. Beispielsweise berichteten in Sierra Leone und in Haiti Betroffene, dass Mitarbeiter humanitärer Einrichtungen Hilfsgüter nur gegen sexuelle Handlungen ausgegeben hatten. Auch Zwangsehen nahmen nach Dürrezeiten und Überflutungen in vielen Ländern zu. Wo die Nahrung knapp wurde, versuchten viele Familien ihre Töchter zu verheiraten - entweder im Tausch gegen Vieh, oder um eine Esserin weniger versorgen zu müssen. Auch andere patriarchale Strukturen führen dazu, dass die Todesrate von Frauen bei Naturkatastrophen im globalen Süden deutlich höher ist als die von Männern. Es obliegt dort vielfach Frauen, sich zu Hause um Alte und Kinder zu kümmern. Damit sind sie ans Haus gebunden, was sie bei Wirbelstürmen oder Überflutungen besonders verwundbar macht.

Die Vielschichtigkeit des Themas zeigt sich auch am Beispiel von versiegenden Wasserquellen. In den ländlichen Regionen Afghanistans, Kenias und Äthiopiens sind Mädchen laut dem Buch “How Women Can Save The Planet” der Soziologin Anne Karpf oft für die Wasserversorgung zuständig. In den letzten Jahren hat sich deren Weg zu den Trinkwasserquellen um Stunden vervielfacht, was es ihnen in der Folge erschwert, zur Schule zu gehen.  

Von der Opferrolle an die Hebel der Macht

“Frauen sollten nicht nur als Opfer des Klimawandels gesehen werden, sondern aktiv bei der Minderung der Folgen einbezogen werden,” schrieb der führende sudanesische Klimaforscher Balgis Osman-Elasha schon 2007 in einem UN-Bericht. Bei der Förderung und Umsetzung von klimafreundlichen Projekten werden Frauen dennoch auch über zehn Jahre nach Erscheinen des Berichts kaum einbezogen. In den letzten Jahren flossen nur gerade 0,01% der gesamten Klimafinanzierung in explizit geschlechtersensible Klimalösungen, schreibt die Global Gender and Climate Alliance.

Wie gewinnen Frauen in Klimafragen Einfluss bevor es zu spät ist? Vegetarisch essen und weniger Flüge buchen, reicht nicht: Die Klimakrise ist kein individuelles Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Was ist zu tun?

Klimaktivistin Rosmarie Wydler-Wälti hat den rechtlichen Weg gewählt. Sie verklagt die Schweizer Regierung zusammen mit 1900 anderen älteren Frauen des Verbands Klimaseniorinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Finanzielle und strategische Hilfe haben die Frauen dabei von Greenpeace. Die Seniorinnen fordern, dass die Schweiz ihre Klimaziele anpasst, um ältere Frauen besser vor menschengemachten Hitzewellen zu schützen. Ist die Klage erfolgreich, hätte dies direkte Folgen auf die Klimapolitik der Schweiz und von 46 anderen europäischen Ländern. Sie wären angehalten, ihren CO₂-Ausstoss massiv zu reduzieren.