Die Sommerzeit bringt immer besonders irre Stories hervor. In Berlin verursachte etwa ein als Löwin gelesenes Wildschwein beinahe einen Lockdown. In der Schweiz machten derweil Ökonom:innen Schlagzeilen mit dem Vorschlag, dass Menschen, die keine Kinder haben, die Rente gekürzt werden soll. Ihr fragt euch jetzt vielleicht, was die beiden Stories miteinander zu tun haben? Wartet ab.
Der Kummerkasten von Ethiker:innen füllt sich
Kurz zu den Fakten: Die AHV, so wie sie bei ihrer Gründung 1947 konzipiert wurde, ist auf ein «gesundes» Verhältnis von Rentenzahler:innen und -empfänger:innen angewiesen. Die Schweiz hat heute aber eine alternde Bevölkerung, die immer mehr Renten bezieht. Gleichzeitig zahlen immer weniger Menschen in die AHV ein. Das ist unter anderem darum der Fall, weil die Menschen in der Schweiz immer weniger Kinder haben. Eine Möglichkeit, die Balance wiederherzustellen, besteht also darin, mehr Kinder zu haben. Um hier einen besonders griffigen Anreiz zu setzen, lautet nun der Vorschlag, dass Menschen ohne Kindern die Rente gekürzt werden soll. Die Renten von Menschen mit Kindern würden gleich bleiben. Es gäbe keine Erhöhung für sie.
Wir machen nun einen Sprung in die nahe Zukunft. Wir schreiben das Jahr 2028. Die Idee wurde tatsächlich umgesetzt. Bereits steigt die Geburtenrate leicht an. Läuft alles nach Plan, werden die ersten «Rentenkinder» in zirka 18 Jahren in die AHV einzahlen. Alles gut? Nein. Denn im Kummerkasten der Ethikerin stapeln sich Zuschriften verwirrter und verzweifelter Menschen. Eine Auswahl:
Lena, 37, aus A.:
Ich arbeite als Friseurin, liebe meinen Job, komme aber finanziell nur knapp über die Runden. Seit zwei Jahren bin ich glücklich mit Markus zusammen. Er ist 45 Jahre alt und geschieden. Aus seiner Ehe hat er zwei kleine Kinder. Er möchte keine weiteren Kinder, aber ich habe Stress wegen der Rente. Was raten Sie mir? Muss ich mir nun einen anderen Mann suchen? Oder kann ich mir meine Mitwirkung an der Erziehung und Betreuung von Markus’ Kindern anrechnen lassen bei der AHV, wenn ich einen überzeugenden Nachweis dafür erbringe? Würde das dann auf Kosten der Rente seiner Ex gehen? Das wäre mir ja auch nicht recht!
Markus, 45, aus A.:
Ich bin geschieden und seit zwei Jahren mit meiner neuen Freundin, Lena, 37, zusammen. Mit meiner Ex-Frau habe ich zwei Kinder. Obwohl ich einen guten Job habe, sind meine finanziellen Mittel sehr beschränkt seit der Scheidung. Nun will auch Lena unbedingt ein Kind mit mir. Sie sagt, der Grund dafür ist, weil sie mich liebt. Ich habe aber das Gefühl, ihr geht es nur um die Rente. Ich komme mir vor wie ein Zuchtbulle. Was soll ich tun?
Damir (57) und Svenja (52) aus Z.:
Wir sind seit 30 Jahren glücklich miteinander verheiratet und haben zwei erwachsene Töchter (27 und 23 Jahre). Die Ältere ist mit einem Japaner verheiratet und wohnt seit drei Jahren mit ihm in Südafrika. Die Jüngere möchte unbedingt nach Spanien auswandern. Die Frage ist: Wenn unsere Kinder beide nicht in die Schweizer AHV einzahlen, verlieren wir dann den Anspruch auf die volle Rente? Wenn das so wäre, überlegen wir uns, den beiden mit Enterbung zu drohen. Aber das wäre natürlich Ultima Ratio!
Claudia (29) aus B.:
Ich bin seit sieben Jahren in einer glücklichen Beziehung. Wir hätten sehr gerne Kinder. Nun habe ich letztes Jahr erfahren, dass ich unfruchtbar bin. Ich bin am Boden zerstört deswegen. Dazu kommen nun auch Sorgen wegen der Rente. Kann ich irgendwo einen ärztlichen Nachweis für meine Unfruchtbarkeit einreichen? Und falls ja: Gilt dieser nur für mich, oder wird auch mein Freund, der selbst zeugungsfähig ist, von der Rentenkürzung befreit? Ich habe Angst, dass er mich sonst verlässt.
Philipp (35) aus K.:
Ich bin schon mein Leben lang Single und will daran auch nichts ändern. Ich habe in meiner Kindheit Gewalt und Missbrauch erlebt. Ich möchte kein Kind auf die Welt setzen, weil ich Panik davor habe, ihm keine glückliche Kindheit bieten zu können. Gleichzeitig bin ich unter Druck wegen der Rente. Braucht es ein psychiatrisches Gutachten, damit ich trotz Kinderlosigkeit die volle Rente erhalte?
Jessy (28) aus B.:
Ich arbeite als Künstlerin und habe null Bock auf Kinder. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich das noch ändert. Das passt einfach nicht in mein Leben. Aber klar: Für meine Rente wäre ein Kind eigentlich wichtig. Nun meine Frage: Muss ich wirklich ein eigenes Kind haben, um meine volle Rente zu sichern? Mein Vorschlag wäre, dass ich einen erwerbsfähigen und -willigen Zuwanderer im Ausland rekrutiere, der ab Tag eins gleich bei uns in die Sozialwerke einzahlt. Warum kann man das nicht so kompensieren?
Lina (8) aus M.:
Melissa ist meine beste Freundin. Aber gestern hat sie mich voll hässig gemacht. Sie hat nämlich zugehört, wie unsere Mamis miteinander geredet haben. Und mein Mami hat ihrem Mami anscheinend gesagt, ich sei kein Wunschkind gewesen. Sie hätten mich nur gezeugt, damit sie mehr Geld bekommen, wenn sie pensioniert sind. Ich bin so traurig! Niemand hat mich gern.
Ideen, die in der Praxis nicht funktionieren
Ich könnte noch mehr zitieren. Aber ich glaube, die Auswahl der Zuschriften macht deutlich, dass die ökonomisch ausgeklügelte Idee das Leben von Menschen ohne Kinder ganz schön durcheinanderbringen könnte; und zwar ohne dass dadurch das Leben von Menschen mit Kindern verbessert würde. Zum Glück habe ich noch ein paar Jahre Zeit, mir gute Antworten auszudenken. Und wenn ich ganz viel Schwein habe, dann entpuppt sich diese Idee vom Sommer 2023 schon bald als das, was auch die Meldung von der Löwin in Berlin war, nämlich nichts anderes als ein Hirngespinst. Ich finde, es wäre uns allen damit gedient.